Kurz nachgefragt... bei Prof. Dr. Gabriele Clemens
September 2023
Prof. Dr. Gabriele Clemens ist Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften in Hamburg und Mitglied der vorbereitenden Arbeitsgruppe für den Akademientag 2023. Im Kurzinterview gibt die Historikerin einen ersten Vorgeschmack auf den Akademientag am 7. November zum Thema „Was ist gerecht? Gerechtigkeitsvorstellungen im globalen Vergleich“.
Warum ist das Thema Gerechtigkeit gerade so aktuell?
Das Thema Gerechtigkeit beschäftigte die Menschen schon immer. Die alten Griechen und Römer setzten sich damit auseinander und entwickelten, so beispielsweise Platon und Aristoteles, Theorien der Gerechtigkeit; ebenso finden wir solche im Mittelalter (z. B. bei Augustinus) und in der frühen Neuzeit bis hinein in die Gegenwart. Für die jüngste Vergangenheit ist zu konstatieren, dass das Thema Gerechtigkeit nicht nur in philosophischen oder allgemeiner intellektuellen Zirkeln diskutiert wird, sondern ebenso breiten Raum in den politischen Debatten bzw. im gesellschaftlichen Diskurs einnimmt. Dabei hat sich in den aktuellen Debatten der Gerechtigkeitsbegriff ausdifferenziert: Es geht nicht mehr nur um politische und soziale Gerechtigkeit, sondern auch um Geschlechter-, Generationen-, Bildungs-, Umwelt- und Klimagerechtigkeit. Dies geschieht in einer Zeit, die von Krisen und Umbrüchen gekennzeichnet ist und Unsicherheit über die eigene gegenwärtige und zukünftige Position hervorruft. Gestützt durch genauere, medial vermittelte Informationen, beispielsweise über die weltweiten Folgen des Klimawandels oder über Bildungsteilhabe, mag dies ein Grund dafür sein, dass die Frage nach Gerechtigkeit virulent geworden ist. Vielleicht kann man auch einen Zusammenhang sehen zwischen der zunehmenden Säkularisierung und der intensiven Diskussion über Fragen der Gerechtigkeit. Wenn man nicht mehr an eine göttliche, Gerechtigkeit im Dies- oder Jenseits herstellende Ordnung glaubt, sondern die gesellschaftliche und politische Ordnung allein als Resultat menschlichen Handelns begreift, stellt sich natürlich auch die Frage, wie man als Gesellschaft größtmögliche Gerechtigkeit herstellen kann.
Als Historikerin beschäftigen Sie sich vor allem mit der neueren europäischen Geschichte – wie blicken Sie auf die „westlichen“ Gerechtigkeitsvorstellungen im globalen Kontext?
Es ist davon auszugehen, dass Vorstellungen von Gerechtigkeit historisch und kulturell bedingt sind. Unsere westeuropäischen Gerechtigkeitsvorstellungen leiten sich aus dem theologischen und philosophischen Erbe der europäischen Geistesgeschichte ab. Ob diese universale Gültigkeit besitzen, d. h. global tatsächlich anschlussfähig sind, oder ob und inwieweit sich andere Kulturen/Gesellschaften bezüglich ihrer Vorstellungen von Gerechtigkeit von unserem westeuropäischen Gedankengut unterscheiden, ist das zentrale Thema des kommenden Akademientages. Bislang sind Versuche einer interkulturell vergleichenden Beschäftigung mit Gerechtigkeitsvorstellungen sowohl in der Forschung als auch in gesellschaftlichen Debatten über erste Ansätze kaum hinausgekommen.
Was erwartet die Besucherinnen und Besucher beim Akademientag? Welchen Beitrag können die Akademien leisten, um Gerechtigkeit neu zu diskutieren?
Beim Akademientag werden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Ländern/Kulturkreisen sowie aus unterschiedlichen Fachdisziplinen genau dieser Frage nach der historisch-kulturellen Bedingtheit von Gerechtigkeitsvorstellungen im globalen Kontext nachgehen. Dabei werden sich die Diskussionen auf die folgenden vier aktuellen Bereiche fokussieren: Klimagerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit, Grenzen/Migration und Gerechtigkeit sowie Historische Gerechtigkeit und kulturelles Erbe. Eine Abendveranstaltung zum Thema „Menschenrechte“ und Musik, Schülerworkshops am Vormittag und eine ‚Projektstraße‘ zur Präsentation aktueller Akademieprojekte runden das Programm ab.
In den Wissenschaftsakademien sind Spitzenforscher und Spitzenforscherinnen aus allen Fachdisziplinen vereint. Der fächerübergreifende Ansatz der Wissenschaftsakademien ermöglicht es, ein Thema wie Gerechtigkeit interdisziplinär und damit aus verschiedenen Aspekten in aller Breite zu diskutieren bzw. zu bearbeiten.
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Dr. Annette Schaefgen
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