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Projekt des Monats

März | Vom Palmblatt zur Forschungsplattform: Hinduistische Tempellegenden in Südindien

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Schon gewusst... dass die südindische Stadt Kanchipuram eine der heiligsten Stätten des Hinduismus ist? 

Zum „Kurz nachgefragt...bei Prof. Dr. Ute Hüsken und Dr. Jonas Buchholz“

Zum Weiterlesen „Temples, Texts, and Networks: South Indian Perspectives"

École française d'Extrême-Orient (EFEO) in Pondicherry

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Um die südindische Tempelstadt Kanchipuram ranken sich hinduistische Erzählungen, die seit dem 12. Jahrhundert schriftlich überliefert werden. Sie bezeugen, wie durch das Handeln der Götter bestimmte heilige Orte entstanden sind und welche Wirkmacht sie innehaben – bis heute.

Wer Erlösung sucht, pilgert nach Kanchipuram: Der Legende nach vervielfacht sich hier die positive Wirkung guter Taten, zugleich wird durch die besondere Wirkmacht des Ortes die negative Wirkung einer schlechten Tat neutralisiert. Kein Wunder, dass Tag für Tag Tausende zu den heiligen Tempeln und Badeplätzen strömen. „Die besondere Bedeutung der mehr als 350 heiligen Orte der StadtKanchipuram für die Gläubigen wird erstmals in diesen Tempellegenden beschrieben – und ist bis heute ungebrochen“, sagt Prof. Dr. Ute Hüsken, die seit Sommer 2022 das Akademieprojekt „Hinduistische Tempellegenden in Südindien“der Heidelberger Akademie der Wissenschaften leitet.

 

Gelebtes hinduistisches Kulturerbe

„In den jahrhundertealten Texten sind die Ursprungsmythen der Tempel dargelegt. Sie erklären, wie durch das Handeln der Götter bestimmte heilige Orte entstanden sind und welche Wirkmacht diese heiligen Orte haben. Direkt aus dem Handeln der Götter leitet sich das Handeln der Menschen ab“, erläutert die Forschungsstellenleiterin am Südasien-Institut (SAI) der Universität Heidelberg. „Interessant und faszinierend ist, dass viele Tempel, die in den Legenden genannt werden, tatsächlich heute noch als aktive, rituell bediente Tempel existieren. Die Narrative sind deshalb auch für die heute gelebten hinduistischen Traditionen von zentraler Bedeutung. Unser Ziel ist, diese Textzeugen des hinduistischen Kulturerbes zu bewahren, zu erforschen und neu zu erschließen – gemeinsam mit unserem Team in Indien, das an der École Française d’Extrême-Orient (EFEO) in Pondicherry (Indien) angesiedelt ist.“

Tempellegenden – neu erzählt

Die Basis der Forschungsarbeit bilden die Tempellegenden, die als Palmblattmanuskripte und alte Drucke in der Gelehrtensprache Sanskrit und der Lokalsprache Tamil vorwiegend in südindischen Bibliotheken aufbewahrt werden. In der 16-jährigen Laufzeit des Projektes erfassen die Teams in Heidelberg und Pondicherry um Prof. Hüsken die Texte systematisch, bereiten sie in digitaler Form auf und übertragen sie ins Englische und moderne Tamil. Aber nicht nur das. „Unsere Arbeit reicht weit über die klassische Editionsarbeit hinaus“, so Hüsken, „Zusammen mit unseren indischen Kolleginnen und Kollegen spüren wir verschiedene Versionen der Texte in Sanskrit und in Tamil auf. Darüber hinaus besuchen wir die Tempel vor Ort und dokumentieren alles, was mit ihnen in Verbindung steht. Dazu zählen die Tempelarchitektur, die Ikonographie, Inschriften, die materielle Kultur, aber auch Rituale und mündliche Erzählungen. Wir führen vor Ort Interviews, informieren uns über die gegenwärtigen Versionen der überlieferten Legenden und erfahren so, was letztlich im kollektiven Gedächtnis überliefert ist.“

Deutsch-indische Forschungszusammenarbeit

Das deutsch-indische Forschungsteam hat sich viel vorgenommen: Sie wollen ein neues Verständnis dieses wichtigen kulturellen Erbes sowohl in seiner historischen Bedeutung als auch in seiner gelebten Praxis schaffen. Anders als bisher soll kein Urtext rekonstruiert, sondern ein Vergleich verschiedener Versionen ermöglicht werden – und das auf einer soliden wissenschaftlichen Basis.

„Unsere Zweigstelle in Pondicherry liegt nur rund 100 Kilometer von Kanchipuram entfernt. Wenn wir Texte oder Textpassagen über bestimmte Tempel lesen, dann können unsere Kolleginnen und Kollegen relativ zeitnah hinfahren und sich alles genau anschauen. Ein großer Vorteil! Es stellt sich immer wieder heraus, dass man vieles, was in den Texten formuliert ist, wesentlich besser versteht, wenn man sich tatsächlich die Tempel ansieht“, weiß Hüsken, die seit 25 Jahren in Südindien forscht. Und noch ein weiterer Aspekt ist ihr wichtig – die indische Gelehrtentradition einzubinden. „Sanskrit beispielsweise wird in Deutschland ganz anders gelehrt und praktiziert als in Indien. Und auch hier profitiert das Projekt sehr von dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Lernkulturen“, so Hüsken. Hinzu kommt, dass das Projekt als Ganzes dank des Know-hows und der Kontakte des EFEO-Teams einen sehr guten Zugang zu diversen Bibliotheken und Archiven in Indien erhalten.

Multimodale Forschungsplattform

Parallel zur Editionsarbeit entwickelt das Team eine Forschungsplattform, die die digitalen Editionen der in Sanskrit und Tamil verfassten Texte mit Tempelarchitektur, Ikonographie, Ritualen und mündlicher Überlieferung zusammenführt. „Unser Ziel ist, eine Forschungsumgebung einzurichten, die das Material nicht a priori hierarchisiert“, betont Hüsken und führt aus: „Die Texte in all ihren Variationen sind zwar unser Ausgangspunkt, andere Formen der Überlieferung in Bild und Ton sind ebenso wichtig und sollen daher gleichberechtigt eingebunden werden. Diese multimediale Erfahrung wollen wir durch digitale Verknüpfungen zugänglich machen – frei zugänglich für Forschende unterschiedlichster Disziplinen, aber auch für die lokalen Communities in Kanchipuram. Deshalb erstellen wir auch Übersetzungen und Zusammenfassungen in Englisch und modernem Tamil. Unsere Hoffnung und Erwartung ist, dass dieser neue multimediale Zugang zu ganz neuen Forschungsfragen und -ergebnissen führt – und vielleicht auch als Modell dient für andere Traditionen, die sich nicht allein auf Texte beschränken, sondern ähnlich vielfältiges Material zur Überlieferung der Narrative vorweisen.“

Katrin Schlotter