Oktober | Neuer Blick auf jüdische Lebenswelten und die Moderne: Interview mit Dr. Markus Kirchhoff
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Das Akademieprojekt „Europäische Traditionen – Enzyklopädie jüdischer Kulturen“ der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig ermöglicht einzigartige Einblicke in jüdische Lebenswelten und die Moderne, geradezu im O-Ton. Mehr dazu erfahren Sie hier im Interview mit Dr. Markus Kirchhoff.
Seit 2007 läuft das Akademieprojekt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Die siebenbändige Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur ist bereits in den Jahren 2011–2017 auf Deutsch erschienen, jetzt entsteht die englische Fassung. Mehr als 500 Wissenschaftler aus aller Welt haben an ihr mitgewirkt. Herausgeber ist Dan Diner, Projektleiter und emer. Professor für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig sowie für moderne Geschichte an der Hebrew University Jerusalem. Parallel dazu entstehen die Editionen: Diese widmen sich Themen der jüdischen Rechts-, Diplomatie-, Politik- sowie Wissensgeschichte von der frühen Neuzeit bis zur Moderne.
Herr Dr. Kirchhoff, Sie leiten die Arbeitsstelle seit 2007. Wenn Sie auf Ihr umfangreiches Akademieprojekt blicken – was ist das Besondere daran?
Unsere Intention ist, die Geschichte und Kultur der Juden in ihrer Bedeutung für das Verständnis der Moderne zu erschließen. Am stärksten ist die Wahrnehmung unseres Projekts sicher mit der Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur verbunden. Sie ist die erste große Enzyklopädie zu diesem Thema in Deutschland nach 1933. Besonders gefällt mir, dass dieses Werk, auch wenn es bereits abgeschlossen ist, mit der aktuellen Gegenwart mitwächst. Das war zum einen von vornherein so intendiert: So weist die Enzyklopädie mit ihrem engeren jüdischen Bezug immer wieder über diesen hinaus, insbesondere auf die Moderne überhaupt, sei es als abgeschlossene Ära, sei es als weiterhin aktueller Rahmen. Zum anderen scheint sie immer wieder neu mit der sich verändernden Resonanz bestimmter Zeiten und Räume zu korrespondieren – zuletzt besonders hinsichtlich des östlichen Europas.
Wie kommt das?
Das Projekt vergegenwärtigt die historischen Lebenswelten der Juden entlang ihrer Demografie, die sich über Europa und darüber hinaus erstreckte, also diasporisch war. Für diese Geografien hat die jüdische Tradition auch eigene Raumbegriffe verwendet, so etwa „Aschkenas“. Unser gleichnamiger Artikel in der Enzyklopädie beschreibt, wie dieser Begriff von einer Bezeichnung in der Bibel über die rabbinische Auslegung im Mittelalter Anwendung fand auf die jüdische Ansiedlung nördlich der Alpen, mit der Rheinregion als Kern. Die so bezeichnete Region erstreckte sich zeitweilig bis England im Westen und in der frühen Neuzeit vor allem weit nach Osten, bis ans Schwarze Meer.
Ein wahrlich großes Gebiet, zeitlich wie räumlich. Was bedeutet das mit Blick auf das östliche Europa?
Schon das Ende des Kalten Kriegs, die Öffnung zuvor eher verschlossen wirkender Räume und Zeiten, war sicher ein wichtiger Hintergrund bei der Konzeption des Projekts, die Projektleiter Professor Dan Diner vorlegte. Seit dem letzten Jahr scheint das östliche Europa – leider wegen eines Kriegs – wieder in neuen, teils alten Konstellationen auf. Diese Gegenwart hat zwar als solche mit der jüdischen Geschichte gar nichts zu tun, aber sie rückt Koordinaten einstigen jüdischen Lebens dieser Regionen neu in den Blick. In der Enzyklopädie gibt es zu Mittelost- und Osteuropa zahlreiche Artikel, zum Beispiel die mehrschichtigen Einträge zu bestimmten Erinnerungsorten wie „Prag“, „Warschau“, „Wilna“, „Lemberg“ oder „Odessa“.
Welchen Beitrag leistet Ihr Projekt zum Verständnis der Moderne?
Insbesondere unsere Enzyklopädie will zum Verständnis der Moderne überhaupt beitragen. Historisch geht es um die Kernzeit von der Zeit der Aufklärung im 18. bis zu ihrer absoluten Negation durch den Holocaust im 20. Jahrhundert. Wir haben diese Spanne mit den Worten „Verheißungen“ und „Chancen“ einerseits und „Gefahren“ und „Verwerfungen“ andererseits umrissen.
Die Einträge der Enzyklopädie verstehen sich als Stichworte, die den jeweiligen Themen aus sich heraus gerecht werden, im Unterschied zu Schlagworten im Sinne von Pauschalbegriffen. Oft ist also anfangs der Blick ins Register nützlich, oder man lässt sich auf die Lenkung durch Querverweise ein.
Die Enzyklopädie erscheint – in Print wie online – auf Deutsch und Englisch, um auch international wirksam zu sein. Zur Nutzung durch eine breitere Öffentlichkeit, insbesondere für Studierende, würden wir uns noch wünschen, dass die online-Version kostenfrei, also Open Access zur Verfügung steht.
Und was leisten die Editionen?
Bislang sind rund ein Dutzend Editionsbände erschienen, sie sind das zweite, nicht minder wichtige Publikationsformat – diese sind übrigens sämtlich im Open Access abrufbar. Die Editionen dienen der akribischen Aufbereitung von Archivalien und tragen so ihrerseits zur Erschließung, Sicherung und Erforschung kulturellen Erbes bei. Hier lässt sich europäisch-jüdische Geschichte unmittelbar, geradezu im O-Ton lesen. Teils ist das Grundlagenforschung, die vor allem Fachleuten neue Erkenntnisse vermittelt. Aber wo immer möglich, sprechen wir auch hier die interessierte Öffentlichkeit an. Der Betrachtungszeitraum der Editionen beginnt mit Aschkenas; als Schwerpunkt geht es vor allem um die Um- und Einbrüche europäischer jüdischer Lebenswelten vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg.
Der „Star“ unter den Editionen ist der Band zu Benjamin Ferencz …
Richtig, Benjamin B. Ferencz hatte ja eine starke Präsenz in den Medien. Im April 2023 ist er im hohen Alter von 103 Jahren verstorben. Seinem Wirken widmet sich der Band Kriegsverbrechen, Restitution, Prävention und dieser reicht unter unseren Editionen am meisten in die Gegenwart hinein, jedenfalls sind darin noch Briefe aus den 1990er Jahren abgedruckt.
Ferencz hat sich zuletzt vor allem als völkerrechtlicher Aktivist verstanden. Seine Dokumente hat er schon zu Lebzeiten als Vorlass der Forschung zur Verfügung gestellt. Die Autoren des Bandes haben daraus eine repräsentative Auswahl getroffen: Zu Ferencz als amerikanischer Soldat, der zum Ende des Zweiten Weltkriegs auf die Konzentrationslager trifft, als junger Ankläger in Nürnberg 1947/48 in einem der sogenannten Nachfolgeprozesse, als Jurist, der sich für die Entschädigung unterschiedlicher Opfergruppen durch die Bundesrepublik und übrigens auch die DDR einsetzt. Dann geht es auch um sein Engagement für den Weltfrieden und eine internationale Strafjustiz, wofür er ja besonders bekannt geworden ist.
Zu seinen Wirkungsfeldern ist sicher auch einiges in der Enzyklopädie zu finden, oder?
Unsere Editionen und die Enzyklopädie korrespondieren miteinander. Besonders zu Ferencz als Ankläger im sogenannten Einsatzgruppenprozess bieten sich einige Stichworte an. So zu den juristischen Konzepten, die er in den Mittelpunkt der Anklage stellte: Genozid sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Näheres dazu findet sich unter den Stichworten „Genozid“ bzw. „Menschenrechte“. Hinzunehmen könnte man auch den Eintrag „Nürnberg“. Darin geht es um die Stadt als Ort des deutschen Reichsmythos, dann der NS-Reichsparteitage und der Rassegesetze 1935 sowie schließlich des Internationalen Militärgerichtshofs und der zwölf Nachfolgeprozesse der amerikanischen Militärverwaltung bis 1949.
Interessant ist daran wiederum die universale Komponente sowie deren Konjunkturen: Nicht zuletzt den jüdischen Rechtsgelehrten im Umfeld der Nürnberger Prozesse ging es um eine Schärfung und Universalisierung des Völkerrechts überhaupt. Die Strafgerichtsbarkeit von Nürnberg war etwa in der Bundesrepublik lange nicht nur wohlgelitten, erlangte dann aber neuen Anklang, als auch anderswo internationale Strafgerichtshöfe eingerichtet wurden, so 1993 für das ehemalige Jugoslawien und 1994 für Ruanda. Der seit 2002 permanent tätige Internationale Strafgerichtshof in Den Haag verbindet sich auch mit Ferencz, dem es in seinem öffentlichen Wirken vor allem auf Prävention von Krieg und Kriegsverbrechen ankam.
Mit Ihrem Akademieprojekt und Benjamin Ferencz greifen Sie in der Tat aktuelle Themen auf: Gerechtigkeit und Menschenrechte. Wie bringen Sie das in die breite Öffentlichkeit?
Mit unseren Publikationen, in Diskussionsrunden unserer Akademie, aber auch bei den Akademientagen der Akademienunion. Bei dem diesjährigen Akademientag, der am 7. November 2023 in Berlin unter dem Motto „Was ist gerecht? Gerechtigkeitsvorstellungen im globalen Vergleich“ stattfindet, sind wir mit unserem Projekt vertreten. Am Projektstand stellen wir unsere Arbeit vor. Und zum Wirken von Ferencz gibt es eine Quizfrage, die zu Gespräch und Austausch einlädt.
Herzlichen Dank für das interessante Interview, Herr Dr. Kirchhoff!
Katrin Schlotter
Kontakt
Sebastian Zwies
Leiter Koordinierung
Akademienprogramm
06131 / 218 528 17
sebastian.zwies@akademienunion.de