
Kurz nachgefragt... bei Prof. Dr. Friedrich Geiger
Profil Prof. Dr. Friedrich Geiger
Projektwebseite NS-Verfolgung und Musikgeschichte
Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM)
Prof. Dr. Friedrich Geiger von der Hochschule für Musik und Theater München leitet das seit Januar 2025 bestehende Forschungsprojekt „NS-Verfolgung und Musikgeschichte“. Die Verfolgung von Musikerinnen und Musikern durch das nationalsozialistische Regime und deren weltweite Konsequenzen stehen im Mittelpunkt des neuen Langzeitforschungsvorhabens. Ziel des Forschungsprojekts ist es, in den kommenden 18 Jahren die Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der NS-Verfolgung zu revidieren und zu vervollständigen. Das Langzeitvorhaben der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, das in Kooperation mit der Universität Hamburg und mit der Hochschule für Musik und Theater München durchgeführt wird, ist Teil des Akademienprogramms.
Die Lebenswege und das Œuvre rassistisch, politisch und weltanschaulich verfolgter Musiker:innen sollten in der NS-Zeit ausgelöscht werden. Wie gestaltet sich Ihre Forschungsarbeit vor diesem Hintergrund?
Wir beginnen immer mit der Rekonstruktion von Biografien. Bei den bekannteren Fällen, etwa Arnold Schönberg oder Marlene Dietrich, ist das einfach, weil man auf Vorarbeiten zurückgreifen kann. Oft haben wir aber auch nur Fragmente eines Lebensweges, manchmal auch nur ein Geburtsdatum und eine Berufsbezeichnung wie „Klavierlehrerin“. Hier setzt dann eine intensive Recherchearbeit an, um zu ermitteln, wie die musikalische Tätigkeit der betreffenden Person vor, während und gegebenenfalls nach der NS-Zeit ausgesehen hat. Aus möglichst vielen solcher Mosaiksteine wird sich, so hoffen wir, ein genaueres Bild der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts zusammensetzen. Denn bislang fehlt eine angemessene Vorstellung davon, was die betroffenen Personen – und wir sprechen hier von vielen Tausenden − zur Geschichte der Komposition, der Interpretation, der Oper, der Unterhaltungsmusik, der Musikpädagogik und anderen Gebieten beigetragen haben. Diese biografischen Recherchen münden in Personenartikeln für unser online bereits jetzt verfügbares Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM). Sie stellen die Basis dar, auf der wir dann übergeordnete Themen wie „Jazz und NS-Verfolgung“ oder das Musikerexil in einzelnen Ländern in Teilprojekten eingehend untersuchen. In Research Concerts werden wir Forschungsergebnisse auch in klingender Form präsentieren.
Im Akademienprogramm findet sich unter anderem das Projekt über Erich Wolfgang Korngold, dessen Werk und Leben ans Licht geholt werden. Außerhalb der Akademienlandschaft gibt es noch weitere Initiativen, die sich mit verfolgten Musiker:innen auseinandersetzen. Wie gestaltet sich diese Zusammenarbeit?
Wir freuen uns sehr auf die Kooperation mit den Kolleg:innen aus dem Projekt zu Korngold, der ein höchst instruktives Beispiel für den historiographischen Revisionsbedarf darstellt – vom frühen Ruhm, der dem musikgeschichtlichen Gedächtnis lange Zeit entfallen war, bis zu dem nachhaltigen Einfluss, den er durch sein Wirken in Hollywood auf die Filmmusik ausübte. Überhaupt ist uns sehr an der Zusammenarbeit mit einschlägigen Initiativen gelegen. Die Verfolgung durch den NS-Terror umfasste nahezu ganz Europa und erreichte infolge des Exils globale Dimensionen, sodass eine arbeitsteilige Struktur internationaler Projekte für die Forschung unbedingt angestrebt wird. Aufgrund seiner langfristigen Perspektive versteht und eignet sich unser Projekt daher auch als Research Hub, um − beispielsweise bei regelmäßigen Kongressen − die international auf diesem Gebiet Forschenden zusammenzubringen.
Gibt es eine:n Künstler:in, deren Schicksal Sie einfach nicht loslässt? Eine Person, die Großes für die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts geleistet hat, aber durch diese Zäsur der nationalsozialistischen Diktatur ihre Wirkung und ihr Ansehen verlor und bis heute noch recht unbekannt ist?
Von den vielen, die ich hier nennen könnte, greife ich den polnischen Komponisten Józef Koffler heraus. Er wurde 1896 in Stryj in der heutigen Ukraine geboren und 1944 mit seiner Familie von einer deutschen Einsatzgruppe nahe Krosno ermordet, nachdem sie drei Jahre im Ghetto Wieliczka inhaftiert gewesen waren. Er begeisterte sich schon in den 1920er Jahren für Arnold Schönbergs Zwölftontechnik und verwendete sie in seinen Werken, zählt also zu den Pionieren dieser atonalen Kompositionsmethode. Kofflers Musik widerspricht den gängigen musikhistorischen Narrativen insofern, als er die beiden gern als diametral dargestellten Richtungen Neoklassik und Zwölftontechnik miteinander verschmolz. Besonders reizvoll ist dabei der Übergang zwischen der Dur-Moll-tonalen und der zwölftönigen Sphäre, den Koffler dramaturgisch gezielt einsetzt. Auch spielt die osteuropäische Volksmusik in seinem Schaffen eine zentrale Rolle. Was davon erhalten ist – etwa die Kantate Die Liebe op. 14 (1931) auf Worte aus dem ersten Korintherbrief – ist ein schlagender Beweis gegen die Auffassung, dass sich mit der Zwölftontechnik keine ausdrucksvolle Musik schreiben lasse.
Weitere Interviews
Kontakt
Dr. Annette Schaefgen
Leiterin Berliner Büro
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
030 / 325 98 73 70
annette.schaefgen@akademienunion.de