Zum Hauptinhalt springen
Projekt des Monats

September | Entideologisiert – die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA)

Projektwebseite

Gerald Hubmann im Podcast der BBAW

Übersichtsseite Projekt des Monats
BMBF-Webseite zu den Geistes- und Sozialwissenschaften

Werk in progress: Gut drei Viertel der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) sind bereits bearbeitet. Die Edition umfasst erstmals sämtliche Veröffentlichungen, Manuskripte und Entwürfe sowie den Briefwechsel von Marx und Engels – vollständig und authentisch.

„Das Marx-Bild, das heute noch vorherrscht, ist politisch geprägt und einfach zu eng“, weiß Dr. Gerald Hubmann, der seit 2009 die Arbeitsstelle des Akademieprojekts „Marx-Engels-Gesamtausgabe“ (MEGA) derBerlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) leitet. „Marx ist bisher immer in politischen Kontexten rezipiert worden. Die alten Parteiausgaben propagieren einen politischen Marx. Genau das tun wir nicht. Die MEGA ist streng textphilologisch orientiert. Das heißt, wir greifen auf die Originale, auf die Handschriften und, so sie denn gedruckt worden sind, auf die Werke zurück.“

 

Verschiedene Textarten und -versionen, unklare Autoren- und Herausgeberschaft, jede Menge Anmerkungen und Überkritzelungen – wie hängt all das, was Marx und Engels verfasst haben oder angeblich verfasst haben, zusammen? Mit dieser schier unlösbaren Aufgabe setzt sich das MEGA-Team auseinander. Die Forschenden haben sich dem Ziel verschrieben, sämtliche Schriften und den gesamten literarischen Nachlass von Marx und Engels in authentischer Form zu dokumentieren. Dies umfasst die Genese der Texte ebenso wie unterschiedliche Fassungen, das Unfertige und die Textvarianten. Gleiches gilt für den bislang unveröffentlichten Manuskriptnachlass von Marx und Engels. Auch unbekannte publizistische Beiträge der beiden Vordenker werden ediert. Besonders spannend ist ihre Korrespondenz untereinander sowie mit 2.000 Briefpartnern in aller Welt, die ungekürzt veröffentlicht wird. Bleiben noch die Exzerpthefte und Notizbücher, die bisher unbekannte Arbeitsgebiete von Marx, etwa seine naturwissenschaftlichen Studien, ans Licht bringen. „Mit unserer Edition entsteht“, so Hubmann, „ein neues, vollständiges und authentisches Bild von Marx und Engels und zugleich von der Zeit, die sie prägten.“

Internationale Kooperation von Akademie und Archiven

Der literarische Nachlass von Marx und Engels ist groß und bedeutend, ja, sogar Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes. Allen Kriegen, Umwälzungen und Propagandamaßnahmen zum Trotz sind noch unzählige unveröffentlichte Originale in Archiven in Amsterdam, Moskau und Bonn erhalten. Deshalb erfolgt die Erarbeitung der MEGA in internationaler Forschungskooperation, gemeinsam mit den Instituten in Amsterdam und Moskau (derzeit ausgesetzt), die den Nachlass besitzen, sowie mit Editionsgruppen in Japan. Koordiniert werden die Arbeiten des Akademieprojekts an der BBAW, wo auch das von Hubmann geleitete Sekretariat der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES) seinen Sitz hat. Die politisch unabhängige Stiftung wurde eigens 1990 in Amsterdam gegründet, um die in den 1970er Jahren in Moskau und Berlin begonnene MEGA fortzuführen. Nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit liegen rund 75 Prozent der Ausgabe vor, in gedruckten Bänden und in Teilen online unter MEGAdigital.

Neuer Blick aufs Werk

Die bereits vorliegenden Bände der MEGA sind das Maß aller Forschung: Sie bilden als Referenzausgabe die Grundlage für zahlreiche Neuübersetzungen, Werk- und Einzelausgaben weltweit. Was haben Marx und Engels wirklich gesagt, was wurde ihnen aus ideologischen Gründen angedichtet? Dank der akribischen MEGA-Forschung wird klar, inwieweit Marx und Engels politisch instrumentalisiert worden sind. So ist zum Beispiel Das Kapital, anders als vielfach angenommen, nicht allein Marx' Werk. „Von den drei Bänden Kapital veröffentlichte Marx nur einen, die beiden anderen Bände gab Engels nach dem Tod von Marx heraus. Engels brauchte 14 Jahre, um einen riesigen Nachlass an ökonomischen Manuskripten von Marx zu sortieren und daraus die Bände zusammenzustellen. Das heißt also, er hat nur einen Bruchteil des Materials verwendet“, erklärt Hubmann, „und wir haben erstmals sämtliche Marx‘schen Manuskripte, die er überhaupt hinterlassen hat, entziffert. Daraus ergibt sich ein gänzlich anderes Bild.“

Eine Schimäre: Die deutsche Ideologie

Ein weiteres Beispiel ist das vermeintliche Werk Die deutsche Ideologie, angeblich von Marx und Engels gemeinsam verfasst, das jedoch von ihnen nicht veröffentlicht wurde. Darin, so wollte man im 20. Jahrhundert belegen, hätten die Vordenker den „historischen Materialismus“ ausgearbeitet und damit die Grundlagen des Marxismus formuliert. Wie MEGA-Forschungen zeigen, gab es jedoch weder ein solches Werk, noch eine darin ausgearbeitete Theorie, noch selbigen Titel. Vielmehr handelte es sich bei den Manuskripten nur um Fragmente, die bereits zu Lebzeiten stellenweise durch Mäusefraß zerstört waren – die berühmt gewordene „nagende Kritik der Mäuse“ (wirklich ein Spruch von Marx) und die im 20. Jahrhundert erst zu einem „Werk“ kompiliert wurden. „Ein Werk Die deutsche Ideologie jedoch wollten die beiden nie schaffen. Vielmehr entstanden die Fragmente im Rahmen eines unvollendeten Zeitschriftenprojekts zur Kritik an den zu ihrer Zeit bekannten Philosophien“, fasst Hubmann zusammen.

Zweifelsohne hat sich Marx mit existenziellen Grundfragen auseinandergesetzt, zum Beispiel: Wie kommt es zu struktureller Ungleichheit in modernen Gesellschaften? Warum gehen die einen immer leer aus und die anderen werden immer reicher? Wie kommt es zu ökonomischen Krisen? Aber, wie man heute im Zuge der MEGA-Forschung weiß, hat Marx nicht die Lösungen präsentiert. „Marx wurde bisher als Dogmatiker propagiert, der Antworten verkündet. Das ist nicht so. Marx hat vielmehr akribisch recherchiert, die richtigen Fragen gestellt, die Fragen als Schlüssel für Antworten mitgegeben“, betont Hubmann.

Unerforschte Arbeitsgebiete

Neben den großen Werken gibt es jede Menge anderes Material, das es zu entdecken gilt. Hunderte Zeitungstexte zum Beispiel, geschrieben von Marx und/oder Engels. Die Artikel sind jedoch meist anonym veröffentlicht worden. Wann erschien ein Artikel in der New York Tribune? Wann ging das Postschiff nach New York? Wer könnte den Artikel geschrieben haben? Um das herauszufinden, führen die Forschenden Autorschaftsanalysen durch. „Auf dieser Grundlage verifizieren oder falsifizieren wir sämtliche Artikel, die Marx und Engels geschrieben haben könnten. Und dabei wird natürlich einiges, was in früheren Ausgaben aufgeführt war, als falsch aussortiert. Anderes aber kommt hinzu. Und wenn wir die gewaltige publizistische Tätigkeit insgesamt nehmen, dann kommen wir auf einige hundert Artikel, die in unserer Ausgabe neu sind“, sagt Hubmann und fasst zusammen: „Ganz gleich, ob Artikel, Das Kapital oder auch philosophische Werke wie Die deutsche Ideologie, wir prüfen und dekonstruieren (wenn nötig) tradierte Ausgaben und setzen sie, soweit es geht, wieder neu zusammen. So entsteht ein Werk mit ganz neuen Konturen.“

Tausende ungedruckte Briefe

Auch die Korrespondenz von und an Marx und Engels wird erstmals vollständig und unzensiert veröffentlicht und online zugänglich gemacht. „Wir bringen zum ersten Mal auch die Briefe, die an sie geschrieben worden sind. Das eröffnet neue Perspektiven: Über die Kontakte in ganz Europa entsteht fast ein Panorama des 19. Jahrhunderts“, erzählt Hubmann und erläutert an einem Beispiel: „Marx und Engels gründeten und führten die Internationale Arbeiterassoziation und standen daher in regem internationalen Briefkontakt mit Arbeiterführern, die europaweit und bis in die USA agierten. Oft kennen wir ihre Namen nicht, sie bauten unter Bedingungen der Verfolgung ihre Netzwerke auf. Indem wir diese Briefe erstmals bearbeiten, rekonstruieren wir damit die frühen Netzwerke der Emigranten der Arbeiterbewegung. Zugleich wird auch der Aufbau des Netzwerkes einer ersten europäischen ‚Internationalen‘ sichtbar.“

Unveröffentlichte Exzerpte und Notizbücher

Mindestens genauso spannend sind die erstmals publizierten Exzerpthefte und Notizbücher von Marx. „Diese Abteilung wird 32 Bände umfassen, genauso viele wie die Werkabteilung. Das Besondere daran: Wir haben hier zum ganz großen Teil unveröffentlichtes Material zu völlig neuen Arbeitsgebieten von Marx“, so Hubmann. Bisher ediert und veröffentlicht sind beispielsweise hunderte Seiten zur Chemie und Geologie oder auch die ökonomischen Krisen-Hefte, in denen Marx die Weltwirtschaftskrise ab 1857 detailliert beobachtet und ellenlange Statistiken zusammengetragen hat. Diese Studienmaterialien werden jetzt erst sukzessive veröffentlicht. „Warum er sich so akribisch und intensiv mit Geologie, Biologie, Chemie, gar mit Atomtheorie, damals noch Spekulation, auseinandergesetzt hat, wissen wir bisher nicht“, sagt Hubmann. „Wir sehen aber, dass er alles andere ist als ein Dogmatiker, der Antworten verkündet. Wir sehen einen Marx, der ein kritischer Forscher ist, ein Enzyklopädist!“ Durch die Edition wird das enzyklopädische Forschungsprogramm von Marx überhaupt erst sichtbar, das sich von Philosophie und Soziologie über die Naturwissenschaften bis hin zur Kulturgeschichte erstreckt. Die MEGA stellt damit die Marx-Forschung auf eine neue Basis, bildet die Grundlagen für neue Textausgaben weltweit – und bietet Material für weitreichende, spannende Forschungen.

Katrin Schlotter


UNESCO-Weltdokumentenerbe Schriften von Karl Marx

Das Manifest der Kommunistischen Partei (1848) und Das Kapital (1867), beide von Karl Marx in Zusammenarbeit mit Friedrich Engels verfasst, gelten als zwei der wichtigsten Publikationen des 19. Jahrhunderts. Sie prägten die Entwicklung sozialistischer, kommunistischer und anderer revolutionärer Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts – und sind daher 2013 in das Weltregister des Dokumentenerbes aufgenommen worden.