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Projekt des Monats

November | Martin Bubers Briefwechsel: ein „Panorama eines ganzen Jahrhunderts“

Projektwebseite „Buber-Korrespondenzen Digital 

Imagefilm „Buber-Korrespondenzen Digital 

Podcast #InsideAkademie: Theologe Christian Wiese über das Projekt „Buber-Korrespondenzen Digital  

Zahl der Woche: 40.000 Briefe an und von Martin Buber

Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz

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BMBF-Webseite zu den Geistes- und Sozialwissenschaften

Die Werke von Martin Buber (1878-1965), einem der einflussreichsten Denker der modernen deutsch-jüdischen Kultur- und Geisteswelt, sind längst erschlossen. Nun macht die Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz zusammen mit Partnern erstmals seinen Zeiten und Welten umspannenden Briefwechsel digital zugänglich.

War Martin Buber Philosoph oder Theologe? Psychologe oder Pädagoge? Verleger, Übersetzer oder politischer Intellektueller? Kunsttheoretiker oder Kulturzionist? Oder war er – aus heutiger Sicht betrachtet – ein Universalgelehrter, Netzwerker und Kommunikationsgenie? Darüber lässt sich streiten. Zentral für sein Denken war jedenfalls das „Dialogische Prinzip“, das die Beziehungsverhältnisse der Menschen und den Dialog betonte. Für ihn stand fest: Leben ist Begegnung. Und nur in der Begegnung und im Dialog mit anderen kann sich der Mensch selbst erkennen.

„In unserem Editionsprojekt „Buber-Korrespondenzen Digital“ geht es tatsächlich darum, anhand von Bubers Briefwechsel die Welt dieser Dialoge zu erschließen und zu rekonstruieren – und dabei nicht nur Martin Buber selbst im Blick zu haben, sondern auch seine Korrespondenzpartnerinnen und -partner in aller Welt“, betont Prof. Dr. Christian Wiese, der seit 2020 das auf 24 Jahre angelegte digitale Editionsprojekt leitet. Es ist eine Kooperation zwischen der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der National Library of Israel. Bis 2024 war auch die Friedrich-Schiller-Universität Jena beteiligt. „Wir sind ein deutsch-jüdisches, aber auch international ausgerichtetes Projekt, das auf eine intensive Zusammenarbeit mit Forscherinnen und Forschern vor allem in Israel und in den USA baut. Gemeinsam wollen wir das Erbe einer durch den Nationalsozialismus und die Shoah zerstörten und teilweise ins Exil geretteten deutsch-jüdischen Kultur, Geisteswelt und Beziehungsgeschichte erschließen und bewahren“, so Wiese.

Bisher unerforscht: Bubers Korrespondenz

Seit 2021 nimmt das Akademieprojekt den von der Forschung weitgehend unbearbeiteten Briefwechsel in den Blick: Das sind sage und schreibe knapp 42.000 Briefe im Austausch mit 7.000 Adressaten. Der überwiegende Teil der Briefe von und an Martin Buber liegt in seinem Jerusalemer Nachlass in der National Library of Israel – und tritt nun ins Licht der Forschung. „Anders als bei seinen veröffentlichten Werken haben wir es bei den Briefen mit einem ganz anderen Genre zu tun: Es sind Dokumente, in denen jemand frei und nicht für die Öffentlichkeit spricht“, erläutert Wiese, „In Briefen erfährt man gänzlich andere Dinge, als man sie publizierten Texten entnehmen kann – etwa Informationen über die Entstehung seiner Werke und Übersetzungen, seine Beziehungen zu anderen Menschen oder auch ganz neue Facetten seiner zeitgeschichtlichen und existenziellen Erfahrungen.“ Was bedeuteten Emigration und Krieg? Oder die Wiederaufnahme von Beziehungen zu Deutschland nach 1945? Oder wie hat sich das Verhältnis zwischen Martin Buber und anderen Intellektuellen entwickelt oder verändert? Fragen wie diese lassen sich anhand der Korrespondenzen nachvollziehen – und werfen auch ein neues Licht auf Bubers Denken, Leben, Werke und weit darüber hinaus.

Briefwechsel als Spiegel eines Jahrhunderts

Buber hat mit Institutionen, berühmten zeitgenössischen Persönlichkeiten, aber auch mit Laien korrespondiert. Zu den Briefpartnerinnen und -partnern zählten namhafte Köpfe aus Philosophie, Literatur, Kunst oder Theologie. Dazu zählten Lou Andreas-Salomé, Leo Baeck, Rudolf Borchardt, Max Brod, Albert Einstein, Theodor Herzl, Hermann Hesse, Else Lasker-Schüler, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem und Karl Wolfskehl, um nur einige zu nennen. „Bubers Briefwechsel spiegelt einen ganzen Kosmos von kulturellen, geistesgeschichtlichen Prozessen im 20. Jahrhundert wider“, so Wiese. „Man erfährt nicht nur viel über Europa und das Judentum, sondern kommt mit einem ganzen Netzwerk von Personen in Berührung, die sehr unterschiedliche politische oder literarische Auffassungen vertreten.“ Deshalb sieht Wiese in Bubers Korrespondenz ein Panorama eines ganzen Jahrhunderts.Ein Panorama, das nun in all seinen Facetten – beziehungsweise in acht Forschungsmodulen – erforscht und zugänglich gemacht wird.

Acht Forschungsmodule

Buber war ein Universalgelehrter, entsprechend groß ist das Themenspektrum seines Briefwechsels, das das Editionsteam in acht Forschungsmodule aufgeteilt hat. Bisher stand das politische Modul im Fokus, welches das Thema Nationalismus, Zionismus und Staat Israel berührt, nun steht die Frage des Verständnisses von Religionen und Religionswissenschaft im Vordergrund. Weitere Module befassen sich mit Sprache und Übersetzungen sowie mit interreligiösen, insbesondere jüdisch christlichen Dialogen, in die Martin Buber involviert war. Zudem gibt es den großen Bereich Literatur, Kunst, Theater, weil zu seinem Netzwerk auch jüdische wie nichtjüdische Künstlerinnen und Literaten gehörten. Nicht zuletzt spielen auch politische Philosophie und Sozialphilosophie bei der Edition eine große Rolle, ebenso wie Pädagogik, Psychologie, Psychotherapie. Langweilig wird das ganz sicher nicht.

Digitale Briefedition

Die National Library of Israel, ein enger Kooperationspartner des Projekts, hat die Scans der Briefe aus dem Buber Nachlass in Jerusalem bereits zu Verfügung gestellt. Aber wie lassen sich all diese Briefe, die den Netzwerkcharakter von Bubers Wirken widerspiegeln, digital erschließen? Und damit nicht genug: Ziel des Projekts ist eine digitale Briefedition, deren Fokus auf der systematischen Rekonstruktion, der editorischen Erschließung zur Herstellung eines möglichst originalgetreuen Textverlaufs und der kulturgeschichtlichen Analyse der dialogischen Beziehungen wie der Gelehrten- und Intellektuellennetzwerke Martin Bubers liegen soll. Ein wahrlich großes Unterfangen.

„Selbst in 24 Jahren Projektlaufzeit ist eine Volledition aller Briefe eigentlich nicht zu schaffen, daher haben wir bereits in der Antragsphase ein differenziertes System entwickelt, wie wir welche Briefe in welcher Tiefe tatsächlich kommentieren. Dabei gehen wir mehrstufig vor, von der Erstellung der Faksimiles der Briefe über deren Erschließung durch Metadaten und ggf. inhaltliche Abstracts bzw. Briefregesten. Die edle, dritte Bearbeitungsstufe befasst sich mit einem sorgfältig ausgewählten Teil der Briefquellen, die transkribiert und mit einem historisch-kritischen Kommentar versehen werden“, erklärt Wiese.

Verbindungen sichtbar machen

„Der große Nutzen einer digitalen Edition liegt darin, Verbindungen sichtbar zu machen, die man auf anderem Wege gar nicht sichtbar machen kann“, hebt Wiese hervor und führt aus: „Indem wir die Metadaten erheben und in unser System einpflegen, können wir ganz verschiedene Konstellationen abrufen. Wir können sehen, mit wem Buber über welche Themen kommuniziert hat und ob er diese auch gleichzeitig mit anderen verhandelt hat. Wir können auch mit anderen digitalen Archiven kommunizieren, und schauen, wer sonst miteinander korrespondiert hat. Gibt es da ein Netzwerk, das man erkennen kann?“ Dank der digitalen Edition, die in einigen Jahren sukzessive online publiziert wird, ist es möglich, mit einem Klick beispielsweise das Jahr 1925 auszuwählen und zu sehen, wer mit wem worüber korrespondiert hat. Auch bestimmte Entwicklungen innerhalb einer Korrespondenz lassen sich so rekonstruieren. Bis die Plattform online geht, ist noch viel zu tun. Derweil wächst der bearbeitete Bestand der Korrespondenz, werden Doktorarbeiten geschrieben, tagen Kongresse, etwa im November 2024 in Berlin zum Denken von Bubers Weggenossen Franz Rosenzweig oder eine Fachtagung im Juni 2025 zu unterschiedlichen Aspekten von Bubers Wirken in Frankfurt von den 1920er Jahren bis zum Jahr 1938. Man darf gespannt sein.