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Schwarz-Weiß-Porträt von Uwe Johnson
Projekt des Monats

Februar | Up to date: die Uwe Johnson-Werkausgabe

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Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren in Zeiten der Zweistaatlichkeit: Uwe Johnson (1934–1984). Seine Romane, Essays und Briefe erzählen von deutscher Geschichte und weit darüber hinaus mehr als ein guter Grund, erstmals die Edition eines zeitgenössischen Autors im Akademienprogramm zu fördern.

Seit 2014 erforscht die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften an der Universität Rostock Uwe Johnsons Schaffen, also genau dort, wo der Autor von 1952 bis 1954 Germanistik studierte – und wo sich heute mit dem Uwe Johnson-Archiv, der Uwe Johnson-Gesellschaft und der nach ihm benannten Professur die Beschäftigung zu dem Schriftsteller konzentriert. Unter der Leitung von Prof. Dr. Holger Helbig entsteht eine vollständige historisch-kritische Edition der Werke, Schriften und Briefe Uwe Johnsons in gedruckter und digitaler Form.

Unlängst sind zwei weitere Werke in der Ausgabe erschienen: Karsch, und andere Prosa und Zwei Ansichten. Die gedruckte Edition, die insgesamt 22 Bände umfassen wird, bietet mehr als die Erstausgaben: Sie zeigt anhand von Kommentaren, wie das Werk entstanden ist, auf welchen historischen und politischen Fakten es basiert und welche Quellen der Autor benutzt hat. „Mit der Kenntnis all dieser Details gewinnen wir nicht nur neue Einblicke in Johnsons Schaffen und seine Weltsicht, sondern erfahren auch etwas von der Zeit, von der die Werke handeln“, betont Projektleiter Helbig, der die Uwe Johnson-Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts an der Universität Rostock innehat und das dortige Uwe Johnson-Archiv leitet.

Zwischen Ost und West

Uwe Johnsons Schriften spiegeln die deutsche Geistes- und Kulturgeschichte wider: Mit der Veröffentlichung seines Erstlingswerks Mutmassungen über Jakob bei Suhrkamp nahm Johnsons Leben eine Wende: Er siedelte 1959 aus der DDR nach Westberlin über. Zentrales Thema seiner Werke ist, nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Erfahrungen, das Leben im geteilten Deutschland: Sie erzählen wie bei Mutmassungen vom Leben und Tod eines Grenzgängers, der auf keiner Seite Deutschlands zurechtkommt, sie lassen die Geschichte einer Liebe in Zeiten des Mauerbaus (Zwei Ansichten) aufleben oder berichten, wie die knapp 2.000 Seiten lange Chronik Jahrestage, aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Der vierbändige Roman dreht sich um eine alleinerziehende Bankangestellte aus Mecklenburg, die mit ihrer Tochter in New York lebt, und vor großen Entscheidungen steht. Für ihre Tochter protokolliert sie ihr Leben und hält zugleich die historischen Ereignisse einer ganzen Epoche vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum August 1968 fest. „Zweifelsohne sind die Jahrestage Weltliteratur“, so Helbig.

Ungebrochen aktuell

Johnsons Werk ist weit über die Grenzen Deutschlands hinaus interessant – wie etwa die zweite vollständige Übersetzung der Jahrestage ins Englische von Damion Searls aus dem Jahr 2018 zeigt. „Johnson ist ungebrochen aktuell“, hebt Helbig hervor und konkretisiert: „Amerikanische Leserinnen und Leser können nun anhand der Familiengeschichte einer deutschen Auswanderin die amerikanische Geschichte und oft auch ihre eigene Migrationsgeschichte entdecken. Wichtiger noch, sie können anhand der Romanfiguren Antworten auf grundlegende Fragen des Lebens finden, die Beweggründe für das eigene Verhalten ausloten.“ Gerade in der Corona-Pandemie, die jedem ethische Entscheidungen abringe, werde das Buch so gelesen.

„Auch akademisch betrachtet ist das der Kern dessen, was Johnsons Faszination bis heute ausmacht. Er befasste sich mit humanen Fragen – und durch seine Figuren, die in seinen Werken immer wieder vorkommen, macht er die Antworten in unterschiedlichen Situationen und Konstellationen sichtbar. Das Leben entscheidet sich an einzelnen Personen, nicht an allgemeinen Aussagen über das Deutsche oder Deutschland. Bei Johnson erfährt man viel über Selbstverständnis, ethische Konstellationen, aber auch über die Geschichte. All das macht Johnson seinen Leserinnen und Lesern verständlich zugänglich“, lobt Helbig.

Allen zugänglich

Oftmals wandten sich die Leser nach der Lektüre an Johnson – und der antwortete allen, namhaften Intellektuellen wie Schülerinnen und Schülern. Sie fragten, was ihnen wichtig schien, wovon der Schriftsteller schrieb. „Insbesondere die zu großen Teilen bisher noch unveröffentlichten Briefwechsel, die für die Ausgabe ebenfalls vollständig ediert werden, vermitteln einen unmittelbaren Eindruck der Zeit“, so Helbig. „Johnson hat nie an Aktualität verloren, obwohl sich die Lesehaltung der jungen Menschen verändert hat. Gerade die junge Generation begegnet bei der Lektüre ihren Eltern, sie erleben die Geschichte der Teilung, verstehen, was Verantwortung bedeutet und wie bei Konflikten Entscheidungen getroffen werden können.“ Das ist mehr als ein guter Grund, erstmals einen zeitgenössischen Autor und sein Gesamtwerk ins Akademienprogramm aufzunehmen und Stück für Stück sichtbar zu machen.

Print wie online

Während die Printfassung der Johnson-Werkausgabe mit umfassenden Kommentaren für interessierte Leserinnen und Leser gedacht ist und u. a. Johnsons umfassende Arbeit mit Quellen freilegt, bietet die Online-Ausgabe eine Fülle an Zusatzmaterial auch zur Entstehungsgeschichte der Texte. „Da wir auf eine rund zwanzigjährige Expertise mit unterschiedlichsten Anfragen zurückblicken, haben wir einen guten Eindruck gewinnen können, was die Rezipientinnen und Rezipienten interessiert“, so Helbig. „Niemand liest knapp 2.000 Seiten online! Daher laden wir zu einem virtuellen Spaziergang ein.“

Seit Dezember 2019 wird Johnsons 1959 veröffentlichter Debütroman Mutmassungen über Jakob sukzessive online verfügbar gemacht. Dafür wurden sämtliche zugehörigen Archivalien ausgewertet, Johnsons Notizen und Änderungen nachvollzogen und kommentiert. Mit dem Fortschreiten der Edition wird all das, nebst Ton- und Filmdokumenten, nach und nach online gestellt und miteinander vernetzt, sodass sich das Werk Johnsons in seiner Gesamtheit aus ganz unterschiedlichen Perspektiven erschließen lässt. Und das geschieht auf besondere Weise: „Auf einem ‚virtuellen Schreibtisch‘ kann sich jeder genau das zurechtsuchen, was von Interesse ist“, erläutert Helbig, „und bearbeiten, kommentieren, speichern und auch teilen. Mit dem virtuellen Schreibtisch wollen wir eine spielerische Arbeitssituation schaffen, die insbesondere den Lesegewohnheiten der jungen Generation entgegenkommt.“

Katrin Schlotter