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Buddhistisches Bauwerk in einer Landschaft
Projekt des Monats

Februar | Auf den Spuren einer Weltreligion: Die „Frühbuddhistischen Handschriften aus Gandhāra“

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Es war eine Sensation: In den 1990er Jahren tauchten im Nordwesten Pakistans und den benachbarten Regionen Afghanistans, der antiken Region Gandhāra, Jahrtausende alte, handschriftliche Texte auf – Texte, die erstmals die frühe Geschichte des Buddhismus auf dem Weg zur Weltreligion bezeugen. Mit dem Akademieprojekt „Frühbuddhistische Handschriften aus Gandhāra“ stehen sie der Welt wieder zur Verfügung.

„Die Schriften reichen bis ins 1. Jahrhundert vor Christus zurück – und sind die ältesten Handschriften des Buddhismus und zugleich die ältesten südasiatischen Handschriften überhaupt“, sagt Dr. Stefan Baums, Arbeitsstellenleiter des Forschungsprojekts der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Rund 150 Gāndhārī-Schriftrollen kamen in den 1990er Jahren durch Zufall ans Licht, beschrieben auf Birkenrinde mit einer Tinte aus Ruß, verfasst in der lokalen Gāndhārī-Sprache und Kharoṣṭhī-Schrift. „Dass sie überhaupt noch erhalten sind, ist dem Klima und den Mönchen zu verdanken, die diese Schriften in Steinkisten, versiegelten Tontöpfen oder anderen Behältnissen in buddhistischen Stupas oder Klöstern bestattet haben“, betont Baums und ergänzt: „Und dass wir diese Schriften seit 2012 in unserem Langzeitprojekt bis zum Jahr 2032 entschlüsseln können, ist ein Glücksfall – für die deutsche und die weltweite Gāndhārī-Forschung.“

Pioniere der Gāndhārī-Forschung

Das fünfköpfige Kernteam an der Ludwig-Maximilians-Universität in München erforscht und entziffert diese bislang unbekannten Gāndhārī-Handschriften, gibt sie heraus, erstellt Nachschlagewerke zu den Handschriften und zum Buddhismus in Gandhāra und stellt sie erstmals der weltweiten Forschung zur Verfügung – gedruckt und online. „Durch das Akademieprojekt ist es uns gelungen, die Gandhāri-Forschung nach Deutschland zu holen und zu internationalisieren“, sagt Baums, der bereits seit 2001 an den Schriften forscht und ein Wörterbuch erstellt. Dabei arbeitet das Team eng mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Lausanne und Seattle zusammen.

„Es ist faszinierend, zweitausend Jahre alte Handschriften zu entziffern. Das Besondere an diesen Schriften ist, dass sie direkte Einblicke in die frühbuddhistische Literatur und zugleich auch in die Einführung der Schrift in Südasien geben. Auf dem Weg von Indien durch Gandhāra nach Zentralasien und China entwickelte sich der Buddhismus zur Weltreligion. Gandhāra spielte dabei eine zentrale Rolle. Dank der Handschriften können wir diesen Weg nun besser nachvollziehen“, betont Baums.

Vom Wort zur Schrift

Der Buddhismus entstand im 4. Jahrhundert vor Christus im östlichen Indien und wurde zunächst mündlich überliefert, da dort noch keine Schrift bekannt war. In der Grenzregion Gandhāra, die ihren Reichtum dem Fernhandel auf der Seidenstraße verdankte, hatte man im 1. Jahrhundert vor Christus damit begonnen, die Überlieferung schriftlich festzuhalten. „Anhand der Schriftrollen können wir erstmals sehen, was zu dieser Zeit als Wort des Buddha galt. Wir können erkennen, wie eine religiöse Tradition anfängt, die neue Technik Schrift zu verwenden und wie sie die Texte formt“, erläutert Baums und ergänzt: „Und später sehen wir dann Ausarbeitungen der Texte in der Sanskrit-Sprache oder Übersetzungen in die Sprachen Zentral- und Ostasiens.“ Oder anders gesagt: Dank der Handschriften ergeben sich gänzlich neue Einsichten in die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte des Buddhismus – sie decken regionale Ausprägungen auf ebenso wie neue Bereiche und Strömungen. 

Und es gibt noch einen Grund für die immense Bedeutung der frühbuddhistischen Handschriften aus Gandhāra: Die Verschriftlichung der Texte des Buddhismus setzte einen literarischen und religiösen Innovationsschub in Gang – und trug wesentlich zur Ausbreitung des Buddhismus über Indien hinaus bei, durch die er erst zu einer Weltreligion wurde. „Unter den Handschriften finden sich sowohl bekannte Texte in neuer Fassung als auch Texte, die gänzlich neu sind. Das weckt auch heute ein großes Interesse von Buddhistinnen und Buddhisten, etwa aus Ländern wie Thailand oder China“, so Baums. „Viele sehen darin heilige alte Texte, die die Worte des Buddha verkünden und die verehrungswürdig sind – auch für moderne Gläubige.“

Entzifferung der Schrift

Die Handschriften werden sukzessive bearbeitet. Technisches Werkzeug des Vorhabens ist eine eigens entwickelte Editions-Software, die die Forschenden bei der Rekonstruktion und Interpretation der Handschriften unterstützt und die Erstellung interaktiver Online-Ausgaben ermöglicht. All diese Forschungsansinnen gelingen allerdings nur, wenn man Sprache und Schrift (er)kennt.

Inzwischen hat das Forschungsteam einen großen Teil der verblichenen und fragmentarischen Handschriften zusammengesetzt, digital erfasst und entziffert – Rolle für Rolle, Stück für Stück. Was gehört wohin? Welche Inhalte sind noch zu finden? Und haben sie die gleiche Bedeutung? Mit jeder Handschrift setzt sich das Gandhāra-Puzzle weiter zusammen, lernt die Wissenschaft mehr über die längst in Vergessenheit geratene Sprache und Kultur. Und jedes neue Wort fließt in das Dictionary of Gāndhārī ein, das inzwischen mehr als 9.000 Einträge zählt.

Die einzelnen Texte werden dann sorgfältig rekonstruiert, übersetzt, wissenschaftlich kommentiert, paläographisch und sprachlich beschrieben und historisch eingeordnet. „Uns liegt daran, schon Zwischenstufen unserer Arbeit der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Deshalb können die Besucherinnen und Besucher unserer Website auch einen Blick in die Editionswerkstatt werfen“, erklärt Baums. „Wir sind weit fortgeschritten. Die erste Phase unseres Projekts war der Textausgabe gewidmet, wo wir Handschriften, für die wir zuständig sind, nach und nach herausgeben. Diese Phase nähert sich jetzt dem Ende.“

Handschriften und materielle Kultur

„In der nächsten Phase haben wir uns das Ziel gesetzt, Nachschlagewerke zu Schrift und Grammatik der Texte sowie eine Literatur- und Religionsgeschichte Gandhāras zu erstellen. Bei Letzteren wollen wir die Handschriften auch mit der materiellen Kultur zusammenbringen. Dabei werden wir noch intensiver mit auswärtigen Kolleginnen und Kollegen, Spezialistinnen und Spezialisten für Kunstgeschichte, Archäologie und Religionsgeschichte zusammenarbeiten“, betont Baums. „Ganz besonders wichtig ist uns auch, die Schriften in ihren Herkunftsländern wieder zugänglich zu machen. Die Handschriften, die alle aus der Grenzregion zwischen Afghanistan und Pakistan stammen, sind über die Welt verstreut. Eine physische Repatriierung dieser Schriften in die Ursprungsländer ist dadurch erschwert, dass die genaue Herkunft oft nicht nachvollziehbar ist. Mit dem Akademieprojekt machen wir die frühbuddhistischen Handschriften aus Gandhāra jedoch virtuell wieder zugänglich, nicht nur für die Ursprungsländer, sondern auch global.“

Katrin Schlotter