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Zusammengebündelte alte Dokumente
Projekt des Monats

April | „Prize Papers“: Wissensspeicher der frühen Neuzeit

Projektwebsite
Prize Papers / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Video zum Projekt, NDR Kulturjournal 2019

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BMBF-Website zu den Geistes- und Sozialwissenschaften

Schiffspapiere, Warenlisten, private Briefe, Tagebücher, Reisebeschreibungen – in den Beständen des Admiralitätsgerichtshofs im Londoner Nationalarchiv lagert das Kapergut aus etwa 30.000 Schiffskaperungen zwischen 1652 und 1815. Warum diese Dokumente für die Forschung von unschätzbarem Wert sind, weiß Prof. Dr. Dagmar Freist, die seit 2018 das Akademieprojekt Prize Papers, das an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angesiedelt ist und von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen betreut wird, leitet.

Frau Prof. Freist, wie kam es zu diesem außergewöhnlichen Fund?

Das war mehr als ein glücklicher Zufall! Wir hatten die Leiterin der Königlichen Bibliothek in Den Haag nach Oldenburg eingeladen, weil sie zu niederländischen Briefen der Frühen Neuzeit forscht. Diese Briefe, so unser unmittelbarer Eindruck, waren Teil eines Bestandes mit womöglich globaler Reichweite. Wir sind umgehend nach London gereist, um zu schauen, was genau im Admiralitätsgerichtshof lagert. Nie wären wir auf die Idee gekommen, dass unter den Gerichtsakten zu etwa 30.000 Schiffskaperungen zwischen 1652 und 1815 ein Schatz für die Wissenschaft zu entdecken ist.

Nebst Prozessakten, Geschäftskorrespondenz und allerlei Dingen fanden wir 160.000 teilweise noch ungeöffnete Briefe, weitgehend unsortiert und im Originalzustand in Kisten und Postsäcken aufbewahrt. Schnell war klar, dass es sich um einen Fund aus weltweiten Entstehungskontexten handelt, den man nur globalgeschichtlich und in internationaler Zusammenarbeit erfassen und erschließen kann. Digital, versteht sich. Genau das war und ist der Ansatz unseres Akademieprojektes.

Die Prize Papers sind in ihrer Überlieferungsgeschichte und Beschaffenheit einzigartig – ein globales Archiv der Frühen Neuzeit. Deshalb wurden sie 2018 in das Akademienprogramm aufgenommen. Unser Ziel ist, die Pize Papers vollständig zu digitalisieren und weltweit Open Access zugänglich zu machen. In Zusammenarbeit mit unseren Projektpartnern: den National Archives UK in London, dem Deutschen Historischen Institut in London und den IT-Expertinnen – und Experten der Verbundzentrale des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes in Göttingen.

Was ist das Faszinierende an den Prize Papers?

Mit den Prize Papers erhalten wir einen ungeschönten, ungefilterten Einblick in die Geschichte der Europäischen Expansion und des Kolonialismus. Die heterogene Überlieferung zeugt von Armutsmigration, Trennung, politischer Gewalt, Sklaverei, Kriegen, Meuterei, Aufständen und politischem Widerstand, aber auch von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Daneben gibt es Dokumente zu maritimgeschichtlichen Themen, Handel, Wissenstransfer, Spracherwerb oder Klima. Briefe und Notizen schließlich zeigen Perspektiven von Menschen und sozialen Gruppen, von denen wir nur wenige Zeugnisse haben. 

Wie lässt sich diese thematische Vielfalt bewältigen?

Für unsere Forschungen brauchen wir eine große Vielfalt an Wissen aus allen Bereichen, angefangen von seltenen Sprachen bis hin zu den Digital Humanities. Tagtäglich arbeiten wir zusammen mit unseren Projektpartnern und Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern daran, eine Forschungsdatenbank aufzubauen. Zunächst fotografieren wir die Funde, ordnen sie ein, versehen sie mit Schlagworten, und erstellen Metadaten, sodass man anhand der Begriffe gezielt nach Dokumententyp, Themen, Personen, Orten, Zeiten, Kaperungen, Gerichtsverfahren und Schiffen suchen kann.

Inzwischen haben wir über 80 verschiedene Dokumententypen in über 19 Sprachen identifiziert. Die Architektur des Portals muss diese Unterschiedlichkeit abbilden können. Und das tut sie auch.

Wir stehen kurz vor der Onlinestellung der ersten Fassung des Portals in diesem Frühjahr. Es bietet u.a. ein Glossar, in dem sämtliche Dokumenttypen erfasst sind und stellt umfassende Hintergrundinformationen bereit.

Parallel dazu arbeiten wir an der zweiten Version, die sehr komplexe Suchanfragen ermöglicht und Beziehungen abbilden kann. Die Modellierung der Daten erlaubt darüber hinaus eine systematische Analyse großer Datenmengen, die neue Forschungswelten eröffnen und bislang getrennte Sammlungen und Forschungspraktiken verbinden wird.

Gibt es Forschungen, die bereits an die Prize Papers anknüpfen?

Unsere Forschungen zu den Prize Papers stoßen auf großes internationales Interesse, das zeigt sich sowohl an Publikationen und Einladungen zu Konferenzen als auch an den Bewerbungen internationaler Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern.

Sobald unser Portal online ist, stehen die Prize Papers anderen wissenschaftlichen Disziplinen, etwa Klimaforschung, Medizingeschichte, Geografie sowie Natur- und Sprachwissenschaften, für Forschungen zur Verfügung.

Die Forschungen gehen über die Inhalte der Dokumente hinaus. Eine Besonderheit unseres Bestands mit gut 160.000 ungeöffneten oder gefalteten Briefen besteht in seiner Materialität. Kürzlich hat ein internationales Forscherteam, mit dem wir in wissenschaftlichem Austausch stehen, ein Verfahren entwickelt, um Briefe computergestützt zu lesen, ohne sie zu öffnen und damit zu zerstören. Auch die komplexe Art, wie die Briefe gefaltet wurden, lässt sich so untersuchen. Hieraus ergeben sich nie dagewesene Perspektiven für die Forschung, etwa zu den materiellen Dimensionen frühneuzeitlicher Kommunikationspraktiken.

Wie ist die Resonanz bei Forschenden und in der Öffentlichkeit?

Erfreulich groß. Journalistinnen und Journalisten namhafter Medien haben uns kontaktiert und in Oldenburg besucht, um sich ein Bild von unserem Projekt zu machen (siehe Publikationen). Auch unser Twitter-Account ist sehr lebendig. Coronabedingt haben wir neue Online-Formate wie den „Prize Papers Lunch Talk“ entwickelt, der eine große Reichweite hat. Demnächst bieten wir auch ein Online-Forum für internationale Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, damit sie ihre Forschungen zu den Prize Papers vorstellen und sich untereinander unterstützen können.

Was bewirken die Prize Papers hinsichtlich der internationalen Forschungszusammenarbeit?

Unser Projekt ist von Anfang an international ausgerichtet. Wir verstehen es als Anlaufstelle und Plattform, auch für kleine Projekte. Die globale Reichweite des Archivs fordert gewissermaßen, was unser Projekt ausmacht: eine offene und internationale Forschungszusammenarbeit. 

Katrin Schlotter


Prisenpapiere

Die Prize Papers (deutsch: Prisenpapiere) umfassen hunderttausende Briefe, Journale, Logbücher, Verwaltungsakten, Frachtlisten und weitere Dokumente aus der Zeit der Seekriege zwischen 1652 bis 1815. Das Seekriegsrecht in der Frühen Neuzeit erlaubte die Kaperung feindlicher Kriegs- und auch Handelsschiffe, um die Gegner militärisch und wirtschaftlich zu schwächen. Alles, was sich zu dem Zeitpunkt auf einem Schiff befand, wurde als Beweismaterial eingezogen, um die Rechtmäßigkeit der Kaperung noch einmal vor einem Prisengericht oder dem Admiralitätsgerichtshof überprüfen zu können: Schiffspapiere, Warenlisten, Verwaltungsakten, private Briefe, Tagebücher, Reisebeschreibungen, Noten, Vokabellisten, Rechnungsbücher, Zeitungen, um nur einige Dokumententypen zu nennen. Daneben Artefakte wie Stoffmuster, Perlen, getrocknete Pflanzen oder Notizbücher. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckten Archivare die völlig unsortierten Bestände, die nach Abschluss der mit den Seekriegen verbundenen Gerichtsprozesse im Tower of London eingelagert und dann vergessen worden waren.