Zum Hauptinhalt springen
Porträtgemälde
Projekt des Monats

April | Leben für die Musik – neues Forschungsportal zur Musikerfamilie BACH

Projektwebseite
Bach-Archiv
Portal Bach digital
Bach-Museum
Bach-Repertorium

Übersichtsseite Projekt des Monats
BMBF-Website zu den Geistes- und Sozialwissenschaften

Leipzig feiert in diesem Jahr 300 Jahre Bach – und passend dazu den Start des neuen Akademieprojekts „Forschungsportal BACH“. Unter der Leitung von Prof. Dr. Peter Wollny erschließen Forschende der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig erstmals die Lebens- und Wirkungsgeschichte der gesamten Musikerfamilie Bach.

Im Mai 1723 rollte Johann Sebastian Bach (1685–1750) mit zwei Kutschen in Leipzig ein – und wirkte dort über 27 Jahre als Thomaskantor und Director musices. Als ranghöchster Kirchenmusiker leitete er den Thomanerchor und unterrichtete die Chorschüler. In dieser Zeit sind viele seiner berühmtesten Werke entstanden, darunter die Johannes- und Matthäus-Passion, das Weihnachtsoratorium und die h-Moll-Messe. Bis heute gilt Johann Sebastian Bach als meistgespielter Komponist, bekanntester Leipziger und nicht zuletzt als unerreichtes Genie. Und doch ist noch immer recht wenig bekannt über sein Leben und Wirken als Teil einer der bedeutendsten Musikerfamilien der Musikgeschichte.

Biographische Forschung zur Bach-Familie

So wie Bach vor 300 Jahren als Thomaskantor ein neues Kapitel in der Musikgeschichte einleitete, schlägt heute die Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig ein neues Bach-Kapitel auf: „Die Bach-Forschung war schon immer Vorreiter in den Musikwissenschaften. Und jetzt, wo nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit das Werkverzeichnis und die Gesamtausgabe vorliegen, wenden wir uns der biographischen Forschung zu. Wir nehmen die ganze Musikerfamilie in den Blick, was lange überfällig ist. Denn bis in die 1990er Jahre hinein wurden die anderen Familienmitglieder vernachlässigt“, sagt Prof. Dr. Peter Wollny, seit 2014 Direktor des Bach-Archivs Leipzig und nun Projektleiter des Akademieprojekts. „Ob Briefe, Anstellungsurkunden, Besoldungsvermerke, Diskussionen mit Zeitgenossen – wir wollen sämtliche Dokumente, die im Zusammenhang mit der Musikerfamilie Bach stehen, digital zusammentragen, auswerten und öffentlich zugänglich machen. Es ist das bisher größte Projekt zur Erforschung der Musikerfamilie Bach.“ Anfang 2023 hat das Projekt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig mit Sitz am Bach-Archiv in Leipzig seine Arbeit aufgenommen, mit einer Laufzeit von 25 Jahren – was in Anbetracht der Größe der Bach-Familie und der Fülle der bisher ungehobenen biographischen Schätze weit mehr als eine Lebensaufgabe ist.

Die „musicalisch-Bachische Familie“

Anders als man bei einer so berühmten Persönlichkeit denken könnte, sah sich Johann Sebastian Bach selbst als Teil einer bedeutsamen Musikerfamilie. Um das Jahr 1735 hat er eine Genealogie der „musicalisch-Bachischen Familie“ zusammengestellt mit 53 namentlich genannten Musikern. „Mittlerweile sind gut 80 Personen erfasst, die vom 16. Jahrhundert bis zum Tode von Bachs Enkel Wilhelm Friedrich Ernst 1845 als Komponisten, Musiker und zum Teil auch als bildende Künstler tätig waren“, weiß Wollny, dessen Team mit dem Bach-Repertorium sämtliche Kompositionen der Musikerfamilie Bach erschlossen hat. „Bach war sehr stolz darauf, Teil einer Familie zu sein, in der alle männlichen Familienmitglieder nicht nur überaus begabt waren, sondern die Musik liebten und schätzten. Bis auf ein, zwei Ausnahmen haben alle die Musik zu ihrem Beruf gemacht“, sagt Wollny. „Und wenn man diese Äußerung ernst nimmt, dann muss man sich auch dafür interessieren, wie sich Bach selbst gesehen hat.“ Wie formuliert er sein Selbstverständnis als Künstler, als Mitglied dieser Familie? Was hat es bedeutet, für die – und von der – Musik zu leben? Und auf dieser biographischen Ebene setzt jetzt das neue Akademieprojekt ein.

Verstreute Quellen neu zusammengesetzt

„Einen Familien-Nachlass gibt es nicht. Sämtliche Materialien vom Stammvater Veit Bach bis hin zum letzten komponierenden Enkel Johann Sebastian Bachs, also aus der Zeit zwischen dem 16. bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein, sind verstreut in Bibliotheken, Archiven und Privatbesitz. Deshalb wollen wir die überlieferten Materialien in ihrer Gesamtheit zusammentragen, digital erfassen, nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten erschließen, kommentieren und online im Forschungsportal bereitstellen“, so Wollny.

All das ist natürlich nur möglich, wenn die verstreut überlieferten Materialien überhaupt noch erhalten und verfügbar sind. „In Mitteldeutschland, speziell in Sachsen, haben wir eine Überlieferung von Archivmaterialien wie nirgendwo sonst in Deutschland. Man kann überspitzt sagen: Seit der Reformation ist kein Blatt Papier mehr weggeworfen worden. Wir wollen einfach alle, ja wirklich alle, Aktenbestände, die für die Familie infrage kommen, durchsehen. Auch deswegen die lange Laufzeit“, sagt Wollny und betont mit Blick auf die Zukunft: „Zudem wollen wir dokumentieren, was wir eingesehen haben, sodass Forschende in 50 oder 100 Jahren wissen, welche Archive bereits gesichtet wurden, was dort zu finden ist oder eben auch nicht.“

Einzigartige Quellensammlung zur Kultur- und Sozialgeschichte

Neben Faksimiles der Originalquellen, Kommentierungen und Zusammenfassungen werden insbesondere auch Kontextdokumente zusammengetragen und digital erschlossen. Nur so lässt sich beispielsweise herausfinden, warum Bach bei der Besetzung der Stelle als höchster Kirchenmusiker in Leipzig nicht die erste Wahl war, oder wieso er sich über die geringe Zahl der Musiker für seine Aufführungen in der Thomaskirche beim Stadtrat beschwert hatte. Derzeit ist dazu lediglich der Beschwerdebrief bekannt. Was daraus nicht hervorgeht ist, ob fehlende Musiker ein lange bekanntes Problem waren oder wie die Stadtväter darauf reagierten.

Ohne Kenntnis des Kontextes sind bis heute viele Fragen offen: Wie wurden Stellen besetzt? Wie war der soziale Status von Musikern in dieser Zeit? Wie waren die Lebensverhältnisse? Und was waren die ästhetischen Diskurse aus der Zeit der Aufklärung? „All das können wir nun im Rahmen des Akademieprojektes exemplarisch und umfassend anhand der Bach-Familie erforschen und auch darlegen. Mit dem Forschungsportal BACH werden wir eine einzigartige Quellensammlung zur Kultur- und Sozialgeschichte der verschiedenen Jahrhunderte zusammenstellen“, davon ist Wollny überzeugt. Dieses Material ist für die Musikgeschichte ebenso neu und spannend wie für viele andere Disziplinen – und für Forschende und Interessierte in aller Welt.

Digitales Forschungsportal als Vorreiter

„Darüber hinaus ist das formulierte Ziel des Projektes, für das exakte Fach Musikwissenschaft exemplarisch aufzuzeigen, wie man überhaupt einen so riesigen Dokumentenbestand aufschlüsselt, welche Methoden dabei zum Einsatz kommen und wie man an die Auswertung geht“, erläutert Wollny. Eine entscheidende Rolle spielt dabei – neben neue Erkenntnissen zu Wasserzeichen und Papiersorten – die automatische Texterkennung für alte Handschriften, die dazu beiträgt, überlieferte Schriften eindeutig einem Schreiber oder einer Schreiberin zuordnen zu können. Dieses Programm wird dann dank bekannter Quellen angelernt und weiterentwickelt, sodass erkennbar ist, wer wann was kreiert oder verbreitet hat – ein wichtiger Punkt, um unterschiedliche Dokumente miteinander in Verbindung bringen zu können. Überhaupt trägt die Digitalisierung all dieser Quellen zur Bewahrung des Kulturerbes bei – denn wer weiß schon, wie lang die jetzt noch erhaltenen Originale, die womöglich noch in Archiven oder Kirchentürmen unentdeckt lagern, Verfall, Schimmel oder Feuchtigkeit trotzen können.

Für die Zukunft

Um ein so umfassendes Projekt wie das Forschungsportal BACH umsetzen zu können, braucht es hohe wissenschaftliche Qualität und einen langen Atem. „Das ist dank des Akademienprogramms an Institutionen wie unserer möglich. Und wir wollen auch in die ferne Zukunft hinein Bach-Forschende, beispielsweise in Neuseeland oder in Japan, an dem von uns vorbereiteten und zur Verfügung gestellten Materialien teilhaben lassen“, so Wollny. Ein Ende der Bach-Forschung ist mit dem Forschungsportal indes nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil, mit jeder neuen Quelle, jeder neuen Erkenntnis, jeder neuen Verknüpfung im digitalen Forschungsportal erhält sie zusätzlichen Schub.

„Gerade in unserer Zeit, in der das Verständnis für die Vergangenheit brüchig zu werden droht, muss alles getan werden, um die Verbindung zu einmaligen Kultur- und Kunstleistungen aufrechtzuerhalten“, weiß Wollny. Für ihn besteht seine Aufgabe nicht nur darin, der Wissenschaft zu dienen und dafür zu sorgen, dass auch in 50 oder 100 Jahren zu Bach geforscht wird. „Vielmehr wollen wir – was ich als Bildungsauftrag begreife – den Menschen nahebringen, dass die großen Werke von Bach und seinen Familienmitgliedern keine verstaubten Kunstwerke sind, sondern uns noch heute viel zu sagen haben, uns inspirieren und erfreuen – zum Beispiel im Juni während des Bachfestes 2023 in der Musikstadt Leipzig“.

Katrin Schlotter