September | „Haydn-Gesamtausgabe“ vollendet: Interview mit Prof. Dr. Arnold Jacobshagen
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Herr Professor Jacobshagen, im Akademienprogramm entstehen aktuell 18 Musikeditionen: Sie lassen die Werke großer deutschsprachiger Komponisten neu erklingen, zugleich ermöglichen sie neue Forschungsansätze. Was zeichnet die „Haydn-Gesamtausgabe“ der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz aus?
Auch wenn sich die editorischen Herausforderungen der meisten Komponisten-Gesamtausgaben ähneln, gibt es im Falle Joseph Haydns eine Reihe von Besonderheiten zu berücksichtigen. Zunächst einmal ist der schiere Umfang des Projekts zu nennen. Haydn wurde sehr alt und hinterließ ein riesiges Gesamtwerk. Er schrieb u. a. mehr als hundert Sinfonien, zwanzig Solokonzerte, 14 Messen, 13 Opern, 55 Klaviersonaten und hunderte Kammermusikwerke. Daher umfasst die Edition 110 Noten- und zwei Textbände sowie 103 Kritische Berichte.
Der Akademientag 2022 in der Musikstadt Leipzig steht unter dem Motto „Musik und Gesellschaft“. Welche Rolle spielt Haydn?
Haydn bewegte sich gleichermaßen in den Bereichen der Hofkultur wie der Kirchenmusik und des bürgerlichen Konzertwesens. Seine Kompositionen erstrecken sich auf nahezu sämtliche Gattungen der damals aktuellen Vokal- und Instrumentalmusik. Er kann also gleich in mehrfacher Hinsicht als paradigmatischer Akteur des europäischen Musiklebens im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert bezeichnet werden. Zudem gehört er zu jenen Komponisten, denen sowohl zu Lebzeiten als auch seitens der Nachwelt eine einhellige und überwältigende Anerkennung zuteilwurde. Er war der weltweit meistgespielte Komponist des späten 18. Jahrhunderts und zugleich der überhaupt erste Instrumentalkomponist, dessen Werke seit ihrem Entstehen bis in die Gegenwart kontinuierlich, international und in repräsentativer Breite zur Aufführung gelangen. Vor allem in den musikgeschichtlich zentralen Gattungen der Sinfonie, des Streichquartetts, der Klaviersonate und des Klaviertrios, als deren eigentlicher Begründer Haydn allgemein angesehen wird, bilden seine Kompositionen bis heute den historischen Grundstock des Repertoires.
In diesem Jahr haben Sie Ihr Akademieprojekt erfolgreich abgeschlossen. Worauf kann sich die Musikwelt freuen?
Der Abschluss der Gesamtausgabe wird dazu beitragen, auch die weniger bekannten Werke Haydns wieder im Musikleben präsent zu machen. Und die Musikwelt kann sich darauf freuen, alle Werke in ihrer authentischen Gestalt zu erleben. Natürlich kann das nicht von heute auf morgen erfolgen, sondern wird das Musikleben langfristig und nachhaltig prägen.
Das Leben und Werk des Wiener Meisters ist nun vollständig erschlossen. Worin lag die Herausforderung?
Die Haydn-Gesamtausgabe ist ein Projekt mehrerer Forschergenerationen. Bereits 1955 wurde mit den Arbeiten begonnen. Gründungsleiter war der dänische Haydn-Forscher Professor Jens Peter Larsen, der bereits in den 1930er Jahren in Kopenhagen die moderne Haydn-Philologie begründet hatte. Zuletzt war Dr. Armin Raab von 1999 bis 2022 Wissenschaftlicher Leiter des Instituts. Die größte Herausforderung bestand darin, ein Projekt dieser Größenordnung über einen so langen Zeitraum hinweg konsistent zu realisieren.
Woran haben Sie eigentlich erkannt, dass es sich um ein „echtes“ Werk Haydns handelt? Es gibt doch sicherlich verschiedene Versionen – wie erstellen Sie daraus die bestmögliche? Lässt sich das einfach erklären?
Die Überlieferung ist sehr problematisch, da nur etwa ein Drittel der Werke Haydns im Originalmanuskript des Komponisten erhalten ist. Viele Werke sind nur in nicht authentischen Abschriften überliefert, die nicht in Haydns unmittelbarem Umkreis entstanden. Daher gingen der Edition meist umfangreiche Untersuchungen zur Abhängigkeit der Quellen voraus. Hierfür wurde im Institut im Laufe der Jahrzehnte die größte Sammlung an Haydn-Dokumenten weltweit angelegt. Sie umfasst Mikrofilmaufnahmen, Mikrofiches und Digitalisate zu sämtlichen erhaltenen Werken, darunter alle Autographe, alle autornahen Abschriften, alle Erstausgaben sowie zahlreiche weitere Abschriften und Frühdrucke. Insgesamt handelt es sich dabei um knapp 400.000 Einzelaufnahmen, darunter auch Reproduktionen von Quellen, die mittlerweile nicht mehr zugänglich (z. B. durch Reprivatisierung von Sammlungen in Tschechien), verschollen oder vernichtet sind (z. B. durch den Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar).
Dank der Arbeit Ihres Akademieprojektes ist es Ihnen gelungen, manch ein Werk erstmals der wissenschaftlichen und musikalischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Worauf sind Sie besonders stolz?
Stolz sein können vor allem diejenigen, die im Laufe der Jahrzehnte die einzelnen Editionen erarbeitet haben, allen voran der langjährige wissenschaftliche Leiter Dr. Armin Raab. Entscheidend für das Gelingen des Projekts war es, dass am Institut stets ein Team von Haydn-Spezialisten wirkte. So waren über die Jahre mehr als zwanzig wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Institut tätig. Darüber hinaus haben zahlreiche externe Herausgeber an der Edition mitgewirkt. So ist im Laufe der Zeit ein unglaublich leistungsstarkes Forschungsnetzwerk entstanden.
Und noch ein kurzer Ausblick: Welchen Forschungsfragen widmet sich nun das Joseph Haydn-Institut e.V.?
Ein neues Forschungsprojekt, dessen Finanzierung kürzlich bewilligt wurde, betrifft die Joseph Haydn fälschlich zugeschriebenen Werke und die Frage der Authentizität. Fehlzuschreibungen und auch Fälschungen sind eine Konstante der Haydn-Überlieferung und der Rezeption. Zudem stehen auch die Briefausgabe und das Werkverzeichnis unmittelbar vor dem Abschluss. Allerdings muss für jedes neue Projekt erst wieder eine neue Förderung beantragt werden, denn das Institut verfügt leider über keinen permanenten Etat. Insofern bedeutet der Abschluss der Gesamtausgabe für die Arbeit des Instituts in seiner bisherigen Form auch einen vorläufigen Endpunkt.
Herzlichen Dank für Ihre interessanten Einblicke, Herr Professor Jacobshagen!
(Das Interview führte Katrin Schlotter im August 2022.)
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