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Nepalesischer Palast
Projekt des Monats

Mai | „Schatztruhe des Lebens“: Religions- und rechtsgeschichtliche Quellen des vormodernen Nepal

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Documenta Nepalica
WDR-Interview mit Prof. Dr. Michaels

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Mehr als 100 verschiedene ethnische Gruppen, Kasten und Sprachen seit jeher ist Nepal kulturell äußerst vielfältig. Aber wie lässt sich ein solches Land einigen, zusammenhalten und lenken? Diese Frage bewegte schon die Shaha-Könige bei der nepalesischen Staatsgründung im 18. Jahrhundert – und noch heute die Forschenden des Heidelberger Akademieprojekts, die dazu einzigartige Quellen erschließen.

Auch wenn in Nepal zuweilen die Zeit still zu stehen scheint, kann das kleine, höchstgelegene Land des Himalaya-Gebirges auf eine schillernde Geschichte zurückblicken. Diese wurde zwar vergleichsweise spät, aber umfangreich dokumentiert. Mehrere Hunderttausend Dokumente aus Nepals „langem 19. Jahrhundert“ (1768–1951) haben in staatlichen und privaten Archiven überdauert. Heute geben sie – digital ediert – nie dagewesene Einblicke in das Leben und Zusammenleben im vormodernen Nepal: von der ersten Verfassung und königlichen Urkunden über Tempelstiftungen, Landschenkungen und Besteuerungen, über Gesetze und Verhaltensregeln bis hin zu Besonderheiten wie das Werfen von Chili auf Genitalien oder Beischlaf mit Asketen.

Forschung in und mit Nepal

Seit 2014 widmet sich das Forschungsprojekt „Religions- und rechtsgeschichtliche Quellen des vormodernen Nepal“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften der Erforschung dieser bislang unerschlossenen Quellen. „In Folge seiner territorialen Ausweitung und Herausbildung als Nationalstaat erlebte Nepal im 18. und 19. Jahrhundert eine ungewöhnlich schnelle und umfangreiche Zunahme in der Herstellung von Urkunden sowie Tempel-, Verwaltungs- und Rechtsdokumenten. Als einziges größeres, nicht-koloniales Dokumentenkorpus ist es für Südasien von besonderem historischem Interesse“, betont Projektleiter Prof. Dr. Axel Michaels. Ziel des in Heidelberg und Patan (Nepal) ansässigen Akademieprojektes ist es, dieses einzigartige Korpus in einem digitalen Katalog systematisch zu erschließen und ausgewählte Dokumente in Edition, Übersetzung und Kommentar zu veröffentlichen.

Einzigartiger Fundus

Ob Erlasse, Landschenkungen, Verträge, Stiftungsurkunden, Briefe oder Rechtsdokumente zu sittlichem Verhalten – das seltene historische Material ist im Spannungsfeld zwischen Indien und Tibet/China sowie Hinduismus und Buddhismus entstanden. Es ist sowohl inhaltlich als auch vom Umfang her einzigartig: „Im langen 19. Jahrhundert von 1768 bis 1951 war Nepal völlig isoliert von der ganzen Welt und, anders als Indien, keine Kolonie. Während sich Indien durch die Briten auf vielen Feldern rasch weiterentwickelte, sei es bei Erziehung, Schulen, Eisenbahnen, englischer Sprache oder auch den höheren Bildungseinrichtungen, blieb Nepal ungefähr 100 Jahre hinterher, auch bei der administrativen Schriftlichkeit“, sagt Michaels und betont: „Die Dokumente, die wir untersuchen, sind die ersten Dokumente, die zu Nepali als lingua franca, zum Aufbau einer standardisierten Verwaltung und zur Entwicklung eines Nationalstaats geführt haben. Dadurch haben sie überhaupt erst eine Einheit Nepals implementiert“. Ein wichtiger Punkt, schließlich ist Nepal von der Fläche her zwar recht klein, hat aber eine immens große Vielfalt an Religionen, Sprachen und Ethnien, wie Michaels erläutert: „Etwa 125 verschiedene Volksgruppen mit ebenso vielen Sprachen und Dialekten lebten auf diesem kleinen Raum – und werden auch in der Verfassung genannt“.

Vom Zettelkasten zur Online-Suche

Dass die erste Verfassung Nepals und all diese Dokumente überhaupt für das Akademieprojekt verfügbar sind, ist letztlich dem Nepal-German Manuscript Preservation Project (NGMPP) und dem heutigen Projektleiter Michaels zu verdanken. In diesem von 1970 bis 2002 bestehenden Gemeinschaftsprojekt wurden die überwiegend hinduistischen und buddhistischen Archivalien des nepalischen Nationalarchivs und anderer Institutionen in Nepal auf Mikrofilm gespeichert – von 1981 bis 1983 unter der örtlichen Leitung des frisch promovierten Michaels. „Damals – lange bevor es Scanner gab – hatten wir die Manuskripte auf Mikrofilm gesichert, aber nur handschriftlich katalogisiert. Eine Kopie davon ging an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin und das Original blieb natürlich im Nationalarchiv“, erläutert Michaels und fährt fort: „Wir wollen rund 100.000 historische, meiste nur eine Seite lange Dokumente erfassen. Lange Zeit hatte sich niemand diesem wertvollen und einzigartigen Fundus angenommen.“

Die Grundlage für das Akademieprojekt ist ein großer Kasten voller Karteikarten: „Diese 100.000 Datensätze manuell durchzugehen, ist mehr als mühsam. So entstand unsere Idee, all das digital zu archivieren und so die Quellen nutzbar zu machen“, erzählt Michaels. Und das war durchaus ungewöhnlich, denn: „Viele Forschende haben immer nur die großen Ideen im Kopf, die Religionen und Philosophien Indiens, und, und, und. Aber ich hatte mich mehr für das Handfeste interessiert. Also habe ich den Antrag für die Förderung im Akademienprogramm ausgearbeitet, der 2014 bewilligt wurde“. Inzwischen ist aus dem ehemaligen Zettelkasten eine digitale, weltweit genutzte Schatztruhe entstanden, die immer wieder neue und tiefe Einblicke in die vielfältigen Facetten des vormodernen Nepal ermöglicht.

Digital und Open Access: Documenta Nepalica

Im Akademieprojekt galt es, erstmals eine öffentlich zugängliche Plattform zur Erforschung südasiatischer Dokumente aufzubauen, nach den Prinzipien von Open Access und Open Data. Die digitale Infrastruktur namens „Documenta Nepalica“ umfasst neben der stetig wachsenden Katalogdatenbank eine Editionsplattform. Dort werden Dokumente in digitalen Editionen mit Übersetzungen oder ausführlichen Kommentierungen bereitgestellt. Nach und nach werden Dokumentenbestände weiterer Archive oder aus Privatbesitz integriert. Beim Start der Datenbank im Mai 2016 enthielt sie bereits etwa 19.000 Einträge, heute (Mai 2023) sind es rund 75.000, bis zum Projektende 2028 sind circa 100.000 Einträge geplant. Die Editionen werden zudem bei der Universitätsbibliothek Heidelberg publiziert und sind damit über fachübergreifende Netzportale erreichbar.

Weit über die Grundlagenforschung hinaus

Auf der Grundlage der edierten Dokumente bearbeiten die Forschenden des Akademieprojekts eine große Bandbreite individueller Themen, etwa zur Entwicklung von Elitenkulturen, zur Inszenierung von Herrschaft, zur Kodifizierung von Recht oder zur Herausbildung öffentlicher Ordnung. All das geht weit über die Grundlagenforschung hinaus und ist öffentlich zugänglich. So wird auch die Publikationsreihe Documenta Nepalica Book Series der Heidelberger Forschungsstelle fortlaufend auf der Editionsplattform des Forschungsvorhabens veröffentlicht, ist aber auch als Print-on-Demand erhältlich. Spannend ist zum Beispiel der „Mulukī Ain“ von 1854, das erste Gesetzbuch Nepals. Es zählt zu den bedeutendsten Werken der modernen nepalesischen Rechtsgeschichte. Vom Staatsaufbau und Gerichtswesen über Tötungs- und Eigentumsdelikte bis hin zu Kasten- und Reinheitsvorschriften werden nahezu alle Aspekte des Straf- und Privatrechts, des öffentlichen, religiösen und Gewohnheitsrechts eingehend behandelt. Ebenso interessant ist die Publikation zum Thema Sklaverei, die unterschiedliche Aspekte der Sklaverei wie Schenkungen, Kaufverträge, Schuldknechtschaft, unfreie Arbeit, Emanzipation und Recht untersucht – um nur zwei Publikationen zu nennen.

Daher fasst Micheals zusammen: „In den Religions- und rechtsgeschichtliche Quellen des vormodernen Nepal schlägt sich der ganze Aufbau eines Staatswesens nieder. Anhand der Dokumente können wir nachvollziehen, wie das System nach und nach aufgebaut wurde und wer dann Zugang hatte. Auch das Verhältnis von Eliten-Kulturen zur ländlichen Bevölkerung lässt sich in diesen Dokumenten erkennen. Zum einen geht es um königliche Dokumente, zum anderen aber tatsächlich um die Bevölkerung, die in diesem verkrusteten Land lebte und auch große Probleme hatte, zu überleben. Und überhaupt ist alles, was das Leben ausmacht, in ebendiesen Dokumenten enthalten.“

Katrin Schlotter


Kontakt

Sebastian Zwies
Leiter Koordinierung
Akademienprogramm

 

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sebastian.zwies@akademienunion.de