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Projekt des Monats

März | Tief verwurzelt: Ortsnamen zwischen Rhein und Elbe

Projektwebseite
Beitrag in „Akademie heute“
Thüringer Ortsnamen-Register von Namensforscher Prof. Jürgen Udolph (MDR)
Deutsche Gesellschaft für Namenforschung

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Ortsnamen sind sprachliche und historische Quellen von einzigartigem Wert, sie bewahren Worte und Namen aus längst vergangenen Zeiten. Und doch werden sie erst nach und nach erschlossen. Mit dem Akademieprojekt „Ortsnamen zwischen Rhein und Elbe – Onomastik im europäischen Raum“ setzt sich ein neues Bild der Siedlungs- und Sprachgeschichte zusammen.

„Die Menschen möchten gern wissen, was ihr Ortsname bedeutet. Je globaler die Welt wird, desto wichtiger wird die eigene Verortung“, davon ist Dr. Kirstin Casemir, Arbeitsstellenleiterin des Projekts der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, überzeugt. Die Ortsnamenforschung oder Onomastik war schon vor gut dreißig Jahren ihr Steckenpferd. Bereits während ihres Studiums der Indogermanistik in Göttingen faszinierten sie die sprachlichen Wurzeln der Ortsnamen. Im vierten Semester lernte Casemir den Namenforscher Jürgen Udolph kennen – zusammen mit einigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern erstellten sie in Feierabendarbeit die ersten Bände zu den Ortsnamen in Niedersachsen. Prof. Dr. Udolph war es auch, der das Akademieprojekt initiierte und bis heute leitet. Kürzlich feierte der bekannte Namenforscher seinen 80. Geburtstag.

Alte Urkunden – neue Einblicke

Seit 2005 bearbeitet das Akademieprojekt die Ortsnamen Nordwestdeutschlands, genauer gesagt, die Ortsnamen der Gebiete Bremen, Niedersachsen und Westfalen. Die Forschenden analysieren dafür erstmals sämtliche Siedlungsnamen, die vor dem Jahr 1600 in schriftlichen Quellen bezeugt sind, etwa in Urkunden, Lehnregistern, Rechnungen oder Karten. Auch die Siedlungsnamen, die es seit dem Mittelalter nicht mehr gibt – und das sind je nach Region bis zu 40 Prozent – fließen in die Analyse ein.

„Viele dieser urkundlichen Quellen wurden etwa seit dem 19. Jahrhundert von Städten oder Klöstern zusammengetragen –  zum Glück. Denn die gesammelten Nachweise der historischen Namenschreibungen zeigen, wie die Namen überliefert wurden“, erläutert Casemir. „Sie dienen uns als Grundlage für ihre etymologische Bearbeitung. Die Untersuchung der Ortsnamen erfolgt auf Landkreisebene – und die Ergebnisse publizieren wir fortlaufend in einzelnen Ortsnamenbüchern.“

Bei dem Akademieprojekt geht es also um weit mehr als nur um einzelne Ortsnamen. „Erst wenn die Ortsnamen eines größeren Gebiets namenkundlich untersucht werden, können wir die ursprüngliche Bedeutung eines einzelnen Namens in seinen Grundzügen erfassen. Die richtige Deutung der Ortsnamen ist die unabdingbare Voraussetzung für deren Auswertung zum Beispiel für die Siedlungsgeschichte“, erklärt die Sprachwissenschaftlerin.

Die Untersuchung der Ortsnamen Westfalens, Niedersachsens und Bremens ist für die Vor- und Frühgeschichte Europas von besonderer Bedeutung: „Dieses Territorium wurde bisher nicht untersucht. Und das, obwohl es mit benachbarten deutschen Regionen (wie dem Rheinland, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Hessen) in engstem Kontakt steht. Auch die historischen Beziehungen zu angrenzenden Räumen wie den Benelux-Staaten, England, Skandinavien, Polen oder dem Baltikum können nun ermittelt werden“, erklärt Casemir. „Vieles spricht dafür, dass die Besiedler Englands nicht, wie lange angenommen, aus Schleswig-Holstein, sondern aus Niedersachsen kommen. Ortsnamen scheren sich nicht um Ländergrenzen.“

Worte wandern, Orte nicht

Viele Ortsnamen sind schon sehr alt, mehrere Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende. Sie beschreiben etwa die charakteristische Lage, Gestalt oder Beschaffenheit einer Siedlungsstelle oder geben – in Verbindung mit Personennamen – Auskunft über frühe Bewohner (siehe Beispiele). „Jeder vergibt Namen mit den Mitteln seiner Sprache. Während einzelne Wörter der gesprochenen Sprache im Lauf der Jahrhunderte auch aussterben können, bleiben sie in Ortsnamen erhalten. Birkenhausen heißt noch heute so, auch wenn die Birke längst nicht mehr steht. Ortsnamen sind träge. Worte wandern, Orte nicht. Das ist wirklich spannend“, betont Casemir. Ortsnamen zeigen, was für die Menschen damals wichtig oder markant war. Und das sogar in einer Sprache, die es hierzulande nicht oder nicht mehr gibt (siehe Beispiel „missing link“). „Daraus können wir viel lernen: Entgegen der landläufigen Meinung haben die geografischen Namen hier einen germanischen, niederdeutschen und keinen lateinischen oder gar keltischen Ursprung. Vielmehr stehen die Namen Westfalens, Bremens und Niedersachsens in Beziehung zu europäischen Nachbarländern, vor allem zu England, den skandinavischen Ländern und dem östlichen Mitteleuropa.“

Gedruckte und digitale Ortsnamenbücher

All das erklären die Forschenden anhand der urkundlichen Belege in den Ortsnamenbüchern: Dort werden die Namen sowohl bestehender als auch untergegangener Siedlungen im heutigen Kreisgebiet in alphabetischer Reihenfolge erläutert. Angefangen von der ersten schriftlichen Erwähnung bis zur heutigen Namenform, sprachwissenschaftlich genauestens ausgewertet. „Mit jedem neuen Beleg kann es zu Neudeutungen kommen. Wir berücksichtigen aber auch Deutungen anderer Forschenden und korrigieren sie wenn nötig unter Angabe von Gründen“, so Casemir. Sie hebt hervor: „Mit jedem Ortsnamenband steht ein Kompendium zur Verfügung, das außer den Namendeutungen auch Beobachtungen zu den Namentypen, ihren Bildungsweisen und lautlichen Veränderungen anhand der mitgeteilten Belegreihen nachvollziehbar macht.“

Seit 2022 ist das Westfälisches Ortsnamenbuch bereits mit Band 20 abgeschlossen, das auf 28 Bände angelegte Niedersächsische Ortsnamenbuch ist noch in Bearbeitung. Nach Ablauf einer Sperrfrist von drei Jahren sind die Bände auch digital verfügbar auf res doctae, der Plattform der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Zudem gibt es eine ganze Reihe projektbezogener Bücher und Aufsätze.

30.000 Ortsnamen bis Projektende

„Bis zum Projektende im Jahr 2029 wollen wir rund 30.000 Ortsnamen bearbeiten“, sagt Casemir. Auf dieser Grundlage folgt, zu guter Letzt, eine zusammenfassende Auswertung der Siedlungsgeschichte der drei Länder Westfalen, Bremen und Niedersachsen. „Wir erhoffen uns noch viele weitere Antworten auf bislang offene Fragen zu Siedlungsbewegungen und zu sehr alten Siedlungsräumen“, betont Casemir. „Zugleich können wir auf Basis unserer flächendeckenden Forschungen Unterschiede innerhalb eines Großraumes erkennen, sowohl onomastisch wie dialektgeografisch. So lassen sich historische Lautwandelprozesse präzise zeitlich und räumlich nachverfolgen“, erläutert sie weiter. All diese Ergebnisse können für weitere Forschungen überaus hilfreich sein, für die historische Geografie und Siedlungsgeschichte, die Archäologie, Sprach- und Kulturgeschichte sowie die Sozial-, Agrar-, Herrschafts- oder Wirtschaftsgeschichte, um nur einige zu nennen.

Doch auch jenseits der Wissenschaft ist das Projekt für die Öffentlichkeit interessant: Dank der Ortsnamenbücher, die übrigens mit rund 40 Euro erschwinglich sind, können sich Interessierte wissenschaftlich fundiert über die Herkunft und Bedeutung ihres Ortsnamens informieren, bekommen Zugang zur Geschichte ihres Ortes – und fühlen sich dort verortet.

Katrin Schlotter


Was ist Onomastik?

Die Onomastik ist eine Disziplin, die in vielfältiger Weise mit anderen Wissenschaftszweigen verknüpft ist. Ihre Ergebnisse werden u. a. aufgegriffen und weiterverwertet in folgenden Wissenschaftsbereichen: historische Geografie und Siedlungsgeschichte, Siedlungsarchäologie, Stammes- und Volksgeschichte, Sprach- und Kulturgeschichte, Historische Volkskunde, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Agrar- und Stadtgeschichte, Verfassungs-, Herrschafts- und Territorialgeschichte, Kirchengeschichte und Personengeschichte.


Beispiele zur Herkunft von Ortsnamen

Hannover (1193 das erste Mal schriftlich erwähnt) = (Siedlung) am hohen Ufer

Leer (um 800 das erste Mal schriftlich erwähnt) = (Siedlung) am lichten Wald (das Wort lâr kennt das Deutsche selbst nicht mehr, es ist aber in recht vielen Namen wie Wetzlar, Fritzlar enthalten und in Leer eben auch)

Verden (das erste Mal 782 schriftlich erwähnt) = (Siedlung) an einer Furt (gemeint ist hier eine Furt durch die Aller)

Wolfenbüttel (1118 erstmals schriftlich erwähnt als Wlferesbutle) = Siedlung eines Wulfheri (das Wlf ist zu lesen als Wulf), wobei die in Ortsnamen genannten Personennamen in aller Regel nicht mit einer bestimmten historisch überlieferten oder bekannten Person zu identifizieren sind.

Ein Beispiel für die häufig vorkommende starke Verkürzung ist das Örtchen Sierße im Kreis Peine. Es ist 1141 (wenn auch nur in einer späteren Abschrift der Urkunde) als Siegehardishusen belegt. Durch Minderbetonung wird der Name zu Sigerdessen, da das -g- wie -j- gesprochen wird, dann zu Sihardessen, durch Ausfall des Hauchlautes -h- und Minderbetonung des -a- zu Sierdessen, weiteren Verlust des zweiten unbetonten -e- zu Sirtzen, und schließlich zu Sierse/Sierße.


Missing link

In Skandinavien finden sich viele Ortsnamen, die mit -lösa, -løse gebildet sind, ebenso in England, dort als -lees, -lease. Die Forschung ist sich einig, dass hier englisch leasow ‘Wiese, Weide’, aus altenglisch læs, læswe ‘Weide’ vorliegt, das wiederum direkt verwandt ist mit dem slavischen lĕs ‘Wald’. Das Wort selbst ist im Skandinavischen nicht belegt, ebenso wenig im Deutschen. Die Brücke zwischen dem slavischen Raum und England bilden niedersächsische, westfälische (und niederländische) Ortsnamen, wie Lesse, Stadt Salzgitter, Leeseringen, Kreis Nienburg, Lastrup bei Cloppenburg usw. Sie stellen das „missing link“ dar.

Kontakt

Sebastian Zwies
Leiter Koordinierung
Akademienprogramm

 

06131 / 218 528 17
sebastian.zwies@akademienunion.de