
In Stein verewigt, digital zugänglich: jüdische Friedhöfe in Deutschland
Projektwebsite Steinerne Zeugen digital
„Wissenschaft im Dialog: Internationale Auftakttagung ‚Steinerne Zeugen digital‘“
Friedhöfe sind nicht nur religiöse Orte – sie sind stille Chronisten, erzählen Geschichte(n). Das Akademienprojekt „Steinerne Zeugen digital“ dokumentiert ausgewählte jüdische Friedhöfe in Deutschland, erforscht sie interdisziplinär und macht neue Erkenntnisse auf einer digitalen Plattform verfügbar.
Jüdische Friedhöfe sind für die Ewigkeit angelegt. Allein das spiegelt sich schon in ihrem Namen auf Hebräisch wider: ‚Bet Olam‘, Haus der Ewigkeit. Im Judentum gilt die Totenruhe als unantastbar. Anders als im Christentum werden Gräber weder eingeebnet noch neu belegt. Dadurch bleiben sie erhalten, oft über Jahrhunderte hinweg – und bezeugen jüdisches Leben über viele Generationen.
Stille Zeugen
Über 2.000 jüdische Friedhöfe gibt es heute in Deutschland – mehr als in jedem anderen Land Europas. Die ältesten reichen bis ins 11. Jahrhundert zurück. In den Inschriften erzählen sie von Familien, religiösem Alltag, Namen und Berufen, von Blütezeiten jüdischer Gemeinden, aber auch von Vertreibung, Verfolgung und Neuanfang. Nicht zuletzt spiegeln sie auch den kulturellen Wandel wider: Neben traditionellen hebräischen Inschriften finden sich ab etwa 1800 auch deutsche Texte – zunächst in hebräischen Schriftzeichen, später in lateinischen Lettern. Bislang ist ein Großteil der Inschriften aus der Frühen Neuzeit jedoch kaum wissenschaftlich erforscht.
Jüdische Friedhöfe sind nicht nur religiöse Orte, sie sind Orte der Erinnerung und kultureller Identität. Als steinerne Zeugen bewahren sie eine ebenso bewegte wie bewegende Geschichte, die das Nebeneinander von jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheitsgesellschaft über Jahrhunderte dokumentiert. Und doch sind die Orte der Ewigkeit bedroht, durch naturgemäßen Verfall und antisemitisch motivierte Schändungen. Mehr als ein guter Grund, ein digitales Archiv aufzubauen, das diese steinernen Zeugen dauerhaft bewahrt und mit all ihren Facetten verfügbar macht.

35 Friedhöfe, 33.000 Grabsteine, 19.000 Inschriften
Seit 2023 dokumentiert und erforscht das Akademienprojekt „Steinerne Zeugen digital. Deutsch-jüdische Sepulkralkultur zwischen Mittelalter und Moderne – Raum, Form, Inschrift“ diese Grabanlagen umfassend und macht sie dauerhaft zugänglich. Das auf 24 Jahre angelegte Akademienprojekt wird von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften betreut und an zwei Arbeitsstellen durchgeführt: am Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen und an der Universität Bamberg. Gemeinsam arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler interdisziplinär an der Edition und Analyse ausgewählter jüdischer Friedhöfe aus dem deutschsprachigen Raum seit dem 16. Jahrhundert.
Ziel ist, rund 35 jüdische Friedhöfe systematisch zu dokumentieren, zu untersuchen und digital zu erfassen. Dabei entstehen digitale Bestandsaufnahmen von über 33.000 Grabmalen und mehr als 19.000 Inschriften. „Damit entsteht erstmals ein wissenschaftlich fundiertes, digitales Archiv der jüdischen Sepulkralkultur in Deutschland von der Frühen Neuzeit bis in das 20. Jahrhundert hinein“, betont Dr. Nicola Kramp-Seidel, Projektkoordinatorin „Steinerne Zeugen digital“ am Steinheim-Institut. Zum Einsatz kommen unter anderem mobile Laserscanning-Technologien zur 3D-Vermessung, Photogrammetrie sowie Datenbanken zur Verknüpfung mit bereits erschlossenen Quellen, Normdaten und einem kontrollierten Vokabular.
Ein Akademienprojekt, viele Disziplinen
Im Fokus steht nicht nur der einzelne Grabstein mit seiner Inschrift, sondern das gesamte Ensemble: angefangen von den geografischen Gegebenheiten der Anlage über bauliche Merkmale wie das Material, die Formensprache, der Erhaltungszustand sowie die Anordnung der Grabmale. „Genau deshalb arbeiten in unserem Akademienprojekt auch so viele Disziplinen zusammen“, sagt Kramp-Seidel. So erstellen beispielsweise die Forschenden aus den Digitalen Denkmaltechnologien – jenseits der topografischen Erfassung – 3D-Modelle von Grabsteinen, deren Inschriften aufgrund von Verwitterung nicht mehr lesbar sind. Diese Modelle kann das Epigraphik-Team für die Transkription und Übersetzung der Inschriften nutzen, ergänzend zu den Fotos. Die Bauforschung wiederum übernimmt die Analyse von Form, Zustand und Materialität und erfasst alle Daten systematisch als sogenannte semantische Graphen. „Unser Ziel ist, alle aus den Disziplinen gewonnenen Daten in einem gemeinsamen System als digitales Text- und Bildcorpus zusammenzuführen – vernetzt, durchsuchbar und für Forschung und Öffentlichkeit zugänglich“, fasst die Koordinatorin zusammen.
Vom Stein zum Wissensnetz
Derzeit stehen die ländlichen Verbandsfriedhöfe Süddeutschlands auf der Forschungsagenda, etwa in Walsdorf und Kriegshaber (siehe Aktuelle Arbeit). Die Teams arbeiten, so sie denn nicht vor Ort auf den Friedhöfen unterwegs sind, auf einer kollaborativen digitalen Editionsumgebung zusammen. Die Epigraphik nutzt die seit 2002 am Steinheim-Institut entwickelte Editionsumgebung epidat – Forschungsplattform für jüdische Grabsteinepigraphik. „Voraussichtlich werden wir dort Ende 2025 unsere ersten Inschriftenkorpora aus Walsdorf und Kriegshaber der Öffentlichkeit zugänglich machen“, so Kramp-Seidel.
Die Bauforschung nutzt für die Objektbeschreibungen das System MonArch, das den kompletten Lebenszyklus eines „Bauprojekts“ virtuell abbilden kann – von der ersten Planung über Restaurierungen bis hin zur Instandhaltung. Dieses wird projektspezifisch weiterentwickelt, sodass hier ab dem zweiten Projektmodul (2026–2028) sämtliche Daten aus allen drei Disziplinen zusammenfließen.
In den nächsten Jahren entsteht eine offene, barrierefreie Online-Plattform, die Texte, Bilder, Pläne und 3D-Modelle zusammenführt – für Forschung, Lehre, Bildung und Gedenken. Damit verschafft das Akademienprojekt den stillen Chronisten jene Aufmerksamkeit, die sie mit all ihren Geschichten verdienen.
Katrin Schlotter







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Leiter Koordinierung
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