Zum Hauptinhalt springen
Hand und Keilschrifttafel
Projekt des Monats

August | 17.000 Keilschriftartefakte: Akademieprojekt erforscht Kulturerbe Mesopotamiens

Projektwebseite
Themenheft der BAdW zum Projekt
Videobeitrag ARTE
Audiobeitrag SRF
Übersichtsseite Projekt des Monats
BMBF-Webseite zu den Geistes- und Sozialwissenschaften

Vor mehr als 5.000 Jahren wurde die Schrift erfunden, im antiken Mesopotamien, der Wiege der Zivilisation. Heute sind im Irak-Museum in Bagdad rund 17.000 weitgehend unerforschte Keilschrifttafeln erhalten – ein einzigartiges Kulturgut, das im Akademieprojekt „Cuneiform Artefacts of Iraq in Context (CAIC)“ bewahrt, ediert und für zukünftige Generationen erschlossen wird.

 

„Krieg, Gewalt, Terror – der Irak wird oft nur als postapokalyptische Schreckenslandschaft wahrgenommen“, sagt Projektleiterin Prof. Dr. Karen Radner und führt aus: „Doch genau dort, im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, lag einst das intellektuelle und kulturelle Zentrum der Welt. Ende des 4. Jahrtausends vor Christus wurden dort die ersten Zeichen mit Griffeln auf Tontafeln geritzt. Fast 3.000 Jahre lang war die Keilschrift das wichtigste Schriftsystem der ganzen Welt und wurde für viele Sprachen außerhalb des heutigen Irak adaptiert. Deshalb ist die kulturelle Bedeutung der Keilschrift für die Menschheitsgeschichte immens.“ Zusammen mit ihren Münchner Kollegen Prof. Dr. Walther Sallaberger und Prof. Dr. Enrique Jiménez leitet sie das Keilschrift-Projekt der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU).

Das interdisziplinäre Akademieprojekt hat im Oktober 2022 seine Arbeit aufgenommen. Zum CAIC-Team gehören fünf Assyriologinnen und Assyriologen sowie ein Mitarbeiter mit Schwerpunkt Digital Humanities. Ziel der Forschenden ist es, rund 17.000 Keilschriftartefakte des Irak-Museums zu dokumentieren, zu edieren, aus historischer und linguistischer Perspektive zu analysieren sowie mit neuesten digitalen Ansätzen für die Öffentlichkeit und Fachleute verschiedener Disziplinen online bereitzustellen. Zahlreiche internationale Partner – darunter Forschungseinrichtungen aus Frankreich, Großbritannien, Spanien, den USA und insbesondere dem Irak – arbeiten im CAIC-Projekt zusammen.

Wissenschaftlicher Austausch voraus

Das CAIC-Projekt ist weit mehr als ein umfangreiches, internationales Editionsprojekt. „Uns ist es wichtig, nicht über, sondern mit dem Irak zu forschen“, betont Radner, Inhaberin des Alexander von Humboldt-Lehrstuhls für die Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens an der LMU. Mit insgesamt drei Professuren ist die LMU ein Hotspot für die Altorientalistik/Assyriologie – und kann auf langjährige Kontakte, Projekte und Erfahrungen vor Ort zurückgreifen. Doch ab 1991 lag der wissenschaftliche Austausch mit dem Irak aus politischen Gründen fast 30 Jahre lang brach. „Wir wollen den internationalen Austausch wiederaufleben lassen und zugleich unsere bisherigen Projekte und Initiativen bündeln“, so Radner. Wichtig ist ihr, dass nicht nur hiesige Forschende in den Irak reisen, sondern, dass auch irakische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wieder im Ausland forschen können: „Deshalb bieten wir ein Fellowship-Programm an der Münchner Arbeitsstelle an. Die Ausschreibung läuft schon. Wir freuen uns darauf, irakische Forschende bei ihrem Karriereweg begleiten zu dürfen. Unser Ziel ist, die einmaligen keilschriftlichen Artefakte gemeinsam zu erforschen und für nachfolgende Generationen zu dokumentieren und zugänglich zu machen.“

Kulturerbeforschung im Umbruch

Dass die Jahrtausende alten Tontafeln überhaupt noch erhalten sind, grenzt schon fast an ein Wunder. Im 19. Jahrhundert wurden die ersten Keilschrifttafeln gefunden, die Schrift entziffert, die Texte verstanden. Ab den 1990ern war es damit vorbei. „Der Irak war durch Kriege, Terror und Embargos von der wissenschaftlichen Entwicklung in der Welt ausgeschlossen“, sagt Radner und erläutert: „Hierzulande erfuhr die Kulturerbe- und damit die Keilschriftforschung dank der Digitalisierung und Internationalisierung eine nie dagewesene Trendwende: Die Bestände der europäischen und amerikanischen Sammlungen wurden weitgehend dokumentiert, digital fotografiert und online zugänglich gemacht. Ganz anders im Irak: In Kriegszeiten wurde das mesopotamische Kulturerbe nicht bewahrt, sondern zerstört, geplündert, geraubt. Zum Glück haben unsere irakischen Kolleginnen und Kollegen alles Menschenmögliche getan, um selbst unter widrigsten Umständen die Keilschriften im Irak-Museum und anderswo zu schützen.“

Einzigartiger Fundus in Irak-Museum

Das Besondere an den rund 17.000 Keilschriftartefakten im Irak-Museum ist, dass sie meist dort gefunden wurden, wo sie vor Jahrtausenden in Gebrauch waren – daher auch der Name des Projekts „Cuneiform Artefacts of Iraq in Context“. „Diese Keilschriftsammlung ist wichtiger als jede andere in der Welt: Wir können nämlich die Zusammenhänge zwischen Fundstück und Fundort herstellen. So erfahren wir, wie die Menschen lebten, was ihnen gehörte oder wie sie ihr Zusammenleben geregelt hatten. Wir können direkt in die Kulturen hineinblicken“, erzählt Radner und kommt ins Schwärmen: „Und wenn wir diese einzigartige Sammlung im Irak-Museum in die Forschung integrieren, kann es uns gelingen, die mesopotamische Kultur als Ganzes zu rekonstruieren – und die wiederum hat eine große Bedeutung für die Menschheitsgeschichte.“

Online vereint

In den nächsten Dekaden ist also mit ganz neuen Erkenntnissen zu rechnen. Schrift, Sprache, Inhalt, Textart, Schreiber, Kontext, Archiv, Fundort – all diese Facetten eines Keilschriftprojektes werden auf einer digitalen Plattform verfügbar gemacht. Im ersten Schritt arbeitet das CAIC-Team an der Fotodokumentation der Sammlung des Irak-Museums: Die Artefakte werden erstmals mit modernsten Methoden digital erfasst, und zwar so, dass die Schrift oft viel besser lesbar ist als das Original. Zudem werden die Tontafeln konserviert und, sofern nötig, restauriert. „Glücklicherweise haben wir schon im Irak-Museum einen eigenen CAIC-Projektraum erhalten, sodass wir an Ort und Stelle gemeinsam an den Objekten arbeiten und auch Trainings durchführen können“, so Radner. „Wir wollen vermitteln, wie man Tontafeln fotografiert und konservatorisch behandelt. Unser Ziel ist, immer mehr Menschen dazu zu befähigen, die Keilschriftartefakte zu sichern, zu dokumentieren und sichtbar zu machen.“

Modernste digitale Anwendungen

Die Fotos der Keilschriftartefakte sind essentiell für die digitale Edition. Darin werden die Texte nicht nur erfasst, sondern auch übersetzt und lexikalisch zugeordnet, sodass Wortlisten entstehen, die verschiedene Zugänge zu bestimmten Forschungsaspekten eröffnen. „Hierbei kann auch Künstliche Intelligenz zum Einsatz kommen, weil wir auf zwanzig Jahre Korpusarbeit aufbauen. Vielleicht hilft sie uns zukünftig sogar dabei, die Keilschriften zu lesen “, berichtet Radner. Die Basis für die digitale Edition ist die „Datenbank Electronic Babylonian Library“, die von Projektleiter Prof. Dr. Enrique Jiménez ursprünglich für literarische Texte angelegt worden ist. Diese wird nun weiterentwickelt, sodass erstmals auch Urkunden mit den dazugehörigen Daten zu Personen und Kontext erfasst werden können. Nach und nach fließen auf der Plattform bereits bekannte und neue Erkenntnisse zusammen, weit über die Bestände des Irak-Museums hinaus. „Unser Ziel ist es, die Keilschrifttafeln und das darin verborgene Wissen miteinander zu verbinden und für jeden, der sich für das Kulturerbe der Menschheitsgeschichte interessiert, zugänglich zu machen.“

Katrin Schlotter


Kontakt

Sebastian Zwies
Leiter Koordinierung
Akademienprogramm

 

06131 / 218 528 17
sebastian.zwies@akademienunion.de